Kommentar

Die vergessenen Student:innen

/ / Bild: M94.5 / Vroni Kalllinger

Die Inzidenz in München liegt unter 20, die Maskenpflicht in der Innenstadt ist aufgehoben und an Arbeitsplätzen und in Schulen sieht auch wieder fast alles normal aus. An den bayerischen Universitäten und Hochschulen hingegen sind – trotz neuer Lockerungen – immer noch kaum Studierende unterwegs. Warum ist das so? Es ist höchste Zeit, Präsenzlehre für alle möglich zu machen. Ein Kommentar von Anna O’Connell.

Rücksicht ja, aber es gibt Grenzen

Seit dem Sommersemester 2020 haben sich sowohl die Dozent:innen als auch die Student:innen auf die neue Situation eingelassen, auf digitale Lehre mit all ihren Vor- und Nachteilen umgestellt und auf die anders oder stärker von der Pandemie betroffenen Menschen Rücksicht genommen. Und das war auch völlig in Ordnung so.

Jetzt, nach zweieinhalb Online-Semestern wäre es aber an der Zeit, dass auch die Universitäten und Hochschulen wieder aufmachen dürfen und die Situation der Studierenden öfter bedacht wird. Schließlich wird diese in fast allen Pressekonferenzen und der medialen Berichterstattung zu Corona-Lockerungen überhaupt nicht erwähnt.

Schwerwiegende Folgen für die Studierenden

Und das, obwohl die Pandemie schwerwiegende Folgen für die Studierenden und damit unsere Gesellschaft haben wird: ohne das Sozialleben des normalen Uni-Alltags wächst die psychische Belastung, die sozialen Unterschiede werden gravierender und es wird wahrscheinlich mehr Studienabbrecher:innen und längere Studienzeiten geben. Insbesondere Studienanfänger:innen ohne Kontakte zu Kommiliton:innen werden abgehängt.

Außerdem gibt es auch über ein Jahr nach Beginn der Pandemie Studierende ohne ausreichende Infrastruktur bei sich zuhause – ohne ruhigen Arbeitsplatz, stabiles Internet oder die notwendigen technischen Geräte. Die (teilweise) Öffnung der Bibliotheken hat sicherlich geholfen, aber könnten die Hochschulen nicht mehr für die betroffenen Studierenden tun? Man könnte doch beispielsweise die momentan leerstehenden Hörsäle und Seminarräume freigeben.

Wir haben das Recht auf Perspektive

Eine unverantwortliche Öffnung und die sofortige komplette Rückkehr zur Präsenzlehre will ja niemand. Die Studierenden und Dozierenden sollten aber wenigstens das Recht auf mehr Perspektive haben.

Immerhin gibt es da eine neue Entwicklung: seit dem 07. Juni 2021 besteht die Möglichkeit für Universitäten und Hochschulen, Präsenzveranstaltungen anzubieten. Das Problem? Das Ganze ist für die Universitäten und Hochschulen freiwillig und in eigener Verantwortung umzusetzen, im Zweifelsfall von den jeweiligen Fakultäten und ihren Regelungen abhängig und nur mit extra Genehmigungen für die einzelnen Veranstaltungen möglich. Also ein sehr großer Aufwand, den nur wenige Dozierende in diesem Semester auf sich nehmen können.

§ 23 Hochschulen

1Präsenzveranstaltungen an den Hochschulen sind unter folgenden Voraussetzungen zulässig: 1. In Gebäuden bestimmt sich die zulässige Höchstteilnehmerzahl einschließlich geimpfter und genesener Personen nach der Anzahl der vorhandenen Plätze, bei denen ein Mindestabstand von 1,5m zu anderen Plätzen gewahrt wird.

2. Auf dem Hochschulgelände besteht FFP2-Maskenpflicht; für die Beschäftigten gilt die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske, ausgenommen nach Erreichen des jeweiligen Arbeitsplatzes, sofern nicht weitere Personen anwesend sind.

3. Die Teilnehmer müssen zweimal wöchentlich einen Testnachweis nach § 4 erbringen und grundsätzlich einen Mindestabstand von 1,5m einhalten; soweit Tests in der Hochschule vorgenommen werden, gilt § 20 Abs. 2 Satz 2 und 3 entsprechend.

4. Die Hochschule hat ein Schutz- und Hygienekonzept auszuarbeiten und auf Verlangen der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde vorzulegen. (…).“

Dreizehnte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 05. Juni 2021

Wie aufwendig die neue Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ist, zeigt ein Beispiel: die Situation am Historischen Seminar der LMU. Auch im größten Seminarraum könnten Veranstaltungen nur in sehr kleinen Gruppen stattfinden (ca. 10 Personen). Außerdem muss in jedem einzelnen Kurs besprochen werden, ob er in (Teil-)Präsenz stattfinden soll oder nicht und wenn ja, muss jede Veranstaltung noch extra genehmigt werden. Da ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass ein Dozierender das tatsächlich macht. Eine echte Perspektive bietet die neue Verordnung also nicht.

Warum nicht wie an den Schulen?

Warum an Universitäten kein verpflichtender, an der Inzidenz orientierter Öffnungsplan – an Schulen aber schon? Dort scheint das doch auch zu funktionieren, neuerdings ist der Unterricht in Vollpräsenz wieder erlaubt, das Schulleben normalisiert sich. So wäre es vielleicht nicht die optimale Lösung, das Konzept des „Wechselunterrichts“ auf Hochschulen zu übertragen, aber doch zumindest eine Überlegung wert. Auch wenn klar ist, dass die Umsetzung logistisch schwierig ist, muss das vielleicht einfach in Kauf genommen werden.

„(…) Ich gehe davon aus, dass bis zum Semesterbeginn auch sehr viele Studentinnen und Studenten schon geimpft sind. Es wird wieder mehr Leben an unseren Hochschulen im Freistaat einkehren, Studentinnen und Studenten werden wieder in den Hörsälen sein. Impfen und Testen hilft. Die aktuellen Entwicklungen stimmen mich zuversichtlich (…).“

Pressemitteilung vom 06. Juni 2021 von Bernd Sibler, bayerischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst

Keiner kann wissen, wie die Situation im Winter aussehen wird. Wir können nur hoffen, dass erstens die Pandemielage Präsenzlehre zulässt und dass zweitens diese Möglichkeit auch genutzt wird bzw. genutzt werden muss. Die Situation der Studierenden und auch der Dozierenden sollte nicht weiter ignoriert werden.

Hilfreich wäre es natürlich, wenn Bernd Sibler mit seiner Aussage Recht behalten würde und tatsächlich der Großteil der Studierenden bis dahin die Corona-Impfung erhalten hätte. Das würde aber auch bedeuten, dass Studierende in die Impfstrategie eingeschlossen werden müssten. Das Durchimpfen in Großbetrieben war schließlich auch möglich.