Kommentar

Free Ahmet Altan

/ / Bild: M94.5 / Michael Goder

Der 40. Geschwister-Scholl-Preis ging auf dem Literaturfest München an Ahmet Altan. Er konnte ihn allerdings nicht persönlich entgegennehmen, weil er in einem türkischen Gefängnis inhaftiert ist. Die Protestbewegung FreeAhmetAltan fordert schon länger die Freilassung Altans. Anfang November wurde er dann vorübergehend frei gelassen, nur um nach acht Tagen wieder festgenommen zu werden. Aus dem Gefängnis schreibt Ahmet Altan weiter Bücher für sein Publikum. Ein Kommentar von Sabrina Graf.

Fehlende Rechtsstaatlichkeit

„Bravo! Sperrt alle ein! Aber Zeiten ändern sich. Zeiten ändern sich immer“, so mokiert sich der diesjährige Geschwister-Scholl-Preisträger Ahmet Altan über das türkische Gericht. Damit meint er jegliche kritische Stimme, die mit zweifelhaften Mitteln zum Verstummen gebracht werden soll. Die Antwort des Gerichts lautete: lebenslängliche Haft – unter erschwerten Bedingungen! Just an dem Tag, an dem Deniz Yücel, der wohl prominenteste deutsch-türkische Journalist, freigelassen wurde, wurde Ahmet Altan eingesperrt. Mit ihm sitzen etliche Journalisten und Medienvertreter im Gefängnis. Die Türkei belegt Platz 157 von 180 Plätzen auf der Rangliste der Pressefreiheit. Schwer vorstellbar, dass 2002 noch über den Beitritt der Türkei in die EU gesprochen – oder überhaupt nur nachgedacht – wurde. Solche Überlegungen sind jetzt in weite Ferne gerückt. Europäische Werte, wie Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit haben heute in der Türkei keinen hohen Stellenwert mehr. Die Willkür der türkischen Justiz trat besonders offen zutage, als Altan Anfang November freigelassen, jedoch nach acht Tagen wieder festgenommen wurde – angeblich, weil eine akute Fluchtgefahr bestand.

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Trotz dieser Einschüchterungstaktik wird es dem türkischen Gericht nicht gelingen, Ahmet Altan mundtot zu machen und damit einen weiteren Kritiker zu demoralisieren. Denn selbst in dieser – wortwörtlich – ausweglosen Situation im Gefängnis, konzentriert sich Ahmet Altan auf das Positive: das Privileg, ein Publikum zu haben. Jeder Einzelne, der Altans Literatur liest und rezipiert, unterstützt den inhaftierten Schriftsteller und Journalist. Das eigentliche Ziel der Gefängnisstrafe, Altan endlich verstummen zu lassen, verfehlt sein Ziel. Denn seine Werke werden von einem zunehmend größeren Publikum gelesen.

Ich werde die Welt nie wieder sehen

Auch die Vergangenheit zeigt, dass es schon mehrmals misslungen ist, eingesperrte Schriftsteller zum Schweigen zu bringen. Als Deniz Yücel im Gefängnis saß, schrieb er das Buch „Agentterrorist“. Als Liao Yiwu – ebenfalls ein Träger des Geschwister-Scholl-Preises – in einem chinesischen Gefängnis saß, schrieb er „Für ein Lied und hundert Lieder“. Das Buch, das Ahmet Altan im Gefängnis geschrieben hat, heißt: „Ich werde die Welt nie wiedersehen“. Auch Altan schweigt trotz der vielen Repressionen nicht. Im Gegenteil: er hört nicht auf, die Regierung zu kritisieren und die politische Zerrissenheit in der Türkei zu benennen. Dabei spricht er nicht pasteurisiert, sondern nennt konkrete Probleme mutig beim Namen. Die Türkei zeigt sich jedoch gegen jegliche Form seiner Kritik unnachgiebig.

Weiter schreiben

Niemand kann sagen, ob Altan irgendwann nach jahrelanger Haftstrafe und anhaltendem Unrecht doch die Hoffnung aufgeben wird. Doch schon jetzt ist absehbar, dass das Gegenteil der Fall ist und noch länger sein wird. Denn Altan legt ein unermüdliches Durchhaltevermögen an den Tag und befindet sich mitten in einer kreativen Schaffensphase. Eigentlich zum Nichtstun verdammt, nutzt er die Zeit im Gefängnis, um zu arbeiten und zu schreiben. Es wirkt fast so, als würde Altan in seiner Gefängniszelle einen Leitspruch befolgen, der schon über dem Schreibtisch der Journalistin Martha Gellhorn hing: „travail – opium unique“, „Arbeit – die einzigartige Droge“. Im Januar erscheint sein nächster Roman, ebenfalls hinter Gittern verfasst. Angesichts der existenziellen Situation, in der sich Altan befindet, reduziert er seine sonst so klangvolle und mäandernde Sprache und formuliert stattdessen knapp, präzise und reflektiert. Für seine Imagination sind Zellenwände und Gefängnismauern kein Hindernis – und so zehrt er von seinem inneren Reichtum: der Bildung, die er erfahren und den Orten, die er besucht hat. Dieser Reichtum kann ihm auch im Gefängnis nicht genommen werden.

Kampf für eine freiere Zukunft

Mithilfe seiner Vorstellungskraft begibt sich Ahmet Altan auf Welt – und Zeitreise. Das Ergebnis, sein literarisches Oeuvre, kann als Zeichen gelesen werden und soll dabei helfen, ihn nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Ahmet Altan, der angesichts des Geschwister-Scholl-Preises fast in Verlegenheit gerät, sollte keine Angst vor einem Vergleich seiner Person mit Hans und Sophie Scholl haben. Auch er bezieht Position für die Freiheit und kämpft gegen jegliche Ausprägung von Nationalismus an. Trotz alledem setzt er keineswegs auf eine politische Lösung. Selbst wenn er wieder freikommen würde, so käme es sehr wahrscheinlich keineswegs zu einer allgemeinen Systemänderung in der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan. Vielleicht wäre es aber der erste Schritt in eine freiere Zukunft, in der – um es mit den Worten des türkischen Schriftstellers und Unterstützers Altans, Orhan Pamuk, zu sagen – die Türkei wieder zu einer „gerechten Rechtsstaatlichkeit“ zurückkehren könnte.