Literaturfest München

Lange-Hannah-Arendt-Nacht

/ / © Pavel Brož, Literaturfest München

Die Lange-Hannah-Arendt-Nacht im Literaturhaus München bietet gleich zwei Neuerscheinungen eine Bühne: dem Sachbuch „Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966.“ und der Graphic Novel „Die drei Leben der Hannah Arendt“. Die lange Nacht beginnt klassisch und etwas zäh, endet jedoch, auf spannende Art und Weise, multimedial.

Klassische Wasserglas-Lesung

„Wir Juden“, das Anfang November im Piper Verlag erschienen ist, schließt eine weitere Lücke der Arendt-Forschung. Das Sachbuch versammelt alle Texte, die sich um die jüdische Identität Hannah Arendts drehen und die sie allesamt zu Lebzeiten veröffentlicht hat. Im großen Saal des Literaturhauses diskutieren zunächst die Mitherausgeberin Marie Luise Knott und der Soziologe Natan Sznaider, flankiert von den klassischen Wassergläsern. Das Gespräch wird zuweilen hitzig, weil die beiden selten der gleichen Meinung sind. Das Thema der „jüdischen Frage“ selbst, ist hochaktuell, wenn es zum Beispiel um die politische und kulturelle Sichtbarkeit von Juden im öffentlichen Raum geht. Immer mehr BürgerInnen jüdischen Glaubens tragen in der Öffentlichkeit keine jüdischen Symbole, wie die Kippa, mehr – aus Angst vor antisemitischen Übergriffen. Trotz der faszinierenden und oft merkwürdigen Aktualität der Gedanken Hannah Arendts wirkt die Diskussion, besonders gegen Ende, schleppend. Die gewählten Textpassagen sind für den Rahmen der Veranstaltung zu kompliziert und wären eher für ein universitäres Proseminar geeignet. Glücklicherweise wird die bis dahin zäh wirkende Lange-Hannah-Arendt-Nacht durch den darauffolgenden Gast aufgelockert.

Die Lange-Hannah-Arendt-Nacht in Wasserglasatmosphäre
© Pavel Brož, Literaturfest München

Finding her face

Die Atmosphäre der klassischen Lesung muss dem multimedialen Ansatz des US-amerikanischen Illustrators Ken Krimstein weichen. Er präsentiert die Graphic Novel „Die drei Leben der Hannah Arendt“ (dtv), gemeinsam mit Hanns Zischler, der sie ins Deutsche übersetzt hat. Schon der vertraute Umgang der beiden miteinander bringt die nötige Dynamik für die Lange-Hannah-Arendt-Nacht. Krimstein feiert an diesem Abend, im Zuge des Literaturfests, die Weltpremiere seiner Graphic Novel im Herkunftsland Arendts. Dafür berichtet er vom Entstehungsprozess der Illustrationen, vom „finding her face“, und untermalt seine Erzählungen mit spontanen Skizzen, die er auf seinem Tablet zeichnet und dem Publikum präsentiert. So ergibt sich eine spontane Form des visuellen Storytellings. Was er mit Worten nur schwer umschreiben könnte, erklärt sich durch seine schnell aufs Tablet geworfenen Zeichnungen von selbst. Timelapse-Illustrationen, verworfene sowie misslungene Szenen, vollenden den spannenden Einblick in die Arbeit Krimsteins und wirken in hohem Maße authentisch. Seine Art zu zeichnen erinnert gelegentlich an den deutschen Illustrator Christoph Niemann, der zu Beginn des Jahres mit der Ausstellung „Im Auge des Betrachters“ im Literaturhaus München vertreten war.

Ken Krimstein signiert und zeichnet
© Pavel Brož, Literaturfest München

Grün, grün, grün sind alle ihre Kleider

Besonders eine Auffälligkeit durchzieht die Graphic Novel: die Farbe Grün. Hannah Arendt schreibt rauchend, grün gekleidet auf der Schreibmaschine. Hannah Arendt spaziert rauchend, grün gekleidet durch den Park. Dicke Augenbrauen, die Zigarette, der Lockenkopf und die grüne Kleidung machen Krimsteins Hannah aus und verleihen ihr den nötigen Wiedererkennungswert. Besonders ein verwaschenes Passfoto Arendts sowie ein – bis dahin unentdeckter – Bibliotheksausweis der französischen Nationalbibliothek in Paris halfen Krimstein, die Person Arendt hinter dem „image“ zu ergründen. Letztendlich hat Krimstein somit seine Mission „finding her face“ erfüllt. Für den Illustrator steht die Farbe Grün dabei für eine Zugewandtheit zum Neuen, die auch Hannah Arendt zeitlebens auszeichnete. Außerdem spielten wohl auch Kostengründe eine Rolle, denn die Verwendung vieler verschiedener Farben ist für den Vorgang des Buchdrucks teuer. Die Lange-Hannah-Arendt-Nacht endet schließlich mit einer Signierstunde Krimsteins, bei der sich jeder Besucher über die Zeichnung einer kleinen Hannah Arendt in der eigenen Ausgabe freuen kann. Den beiden Publikationen ist es, einerseits auf klassische und andererseits auf innovative Weise gelungen, die wirkungsmächtige Ikone des 20. Jahrhunderts, Hannah Arendt, in die Moderne zu transformieren, damit ihr philosophisches und politisches Denken nicht in Vergessenheit geraten möge.