"Zeitfüeinander" Foto:M94.5/Georgia Tsonis (v.l.n.r. David Rott, Nikola Lenk, Philippe Goos, Judith Bohle, Tjark Bernau, Britta Hammelstein)

M94.5 Kulturkritik

ZEITFÜREINANDER

/ / "Zeitfüeinander" Foto:M94.5/Georgia Tsonis (v.l.n.r. David Rott, Nikola Lenk, Philippe Goos, Judith Bohle, Tjark Bernau, Britta Hammelstein)

Die momentane Corona-Pandemie hält Liebessuchende zwar physisch, aber nicht emotional voneinander fern. Auf eine zugleich unterhaltsame und nachdenkliche Art und Weise geht die neue Web-Serie „Zeitfüreinander“ der Frage auf den Grund, ob Liebe auch ohne körperlichen Kontakt möglich ist. In Zusammenarbeit mit zehn Schauspieler*innen aus fünf renommierten deutschen Theaterhäusern hat die Regisseurin Anne Lenk einen virtuellen Speed-Dating-Room mit fiktiven Charakteren, geschaffen, die mithilfe von Videotelefonie-Dates dem Alleinsein entfliehen möchten.  

Die sozialen Bedürfnisse nach Nähe, Sicherheit und Geborgenheit und der Wunsch nach einem Partner, der einem auch in den schwersten Zeiten zur Seite steht, sind im Unterbewusstsein des Menschen tief verwurzelt. Dabei hat jeder eine gewisse Vorstellung davon, wie der potenzielle Partner zu sein hat. Auch wenn man in Zeiten von Social Distancing auf die physische Präsenz eines potentiellen Dating-Partners verzichten sollte, heißt das nicht, dass das eigene Dating-Leben komplett brach liegen muss. Um Liebe auf eine neue und erfrischende Art und Weise zu erfahren, lassen sich die Charaktere der Webserie „Zeitfüreinander“ auf ein virtuelles Dating-Abenteuer ein, in der emotionale Aspekte in den Vordergrund und der physische Kontakt erstmal in den Hintergrund gerückt wird.

Werbespot à la Elite-Partner?

Gleich zu Beginn der Episode von „Zeitfüreinander“ wird man von einer wohlklingenden, dunkleren Männerstimme umhüllt, die von sanft-weichen musikalischen Klängen untermalt ist. 

„Sehnst du dich nach Nähe? Ist Liebe für dich auch nicht immer physisch? Schön, wenn man Zeit hat sich kennenzulernen… zeitfüreinander.com“

Werbeslogan von „Zeitfüreinander“

Die Thematik des Alleinseins und der Sehnsucht nach Geborgenheit wird in diesem kreierten Werbespot perfekt auf den Punkt gebracht. Beim genaueren Betrachten der melancholischen Schwarz-Weiß-Diashow, die parallel zu der Stimme des Erzählers eingeblendet wird, macht sich das Gefühl der Einsamkeit und Trostlosigkeit in einem breit. Auch wenn der Werbespot von Zeitfüreinander in manchen Punkten Ähnlichkeiten zu anderen Partnerbörsen-Konzepten aufweist, hinterlässt er – anstatt von unerfüllten Versprechungen – einen wahren Hoffnungsschimmer, der für Singles nicht nur eine utopische Wunschvorstellung bleiben muss.

Konservativ vs. Freigeist

Nach einem kurzen Flackern erscheinen plötzlich zwei freundliche Gesichter auf der Bildschirmfläche, die anfangen, sich innerhalb der ersten Szene miteinander zu unterhalten. Für den Bruchteil einer Sekunde vergisst man schnell, stiller Beobachter dieses virtuellen und improvisierten Schauspielstücks zu sein. Sobald man sich an die jeweiligen Charaktere und an diese neue künstlerische Ausdrucksweise gewöhnt hat, fällt es einem viel leichter, nicht nur die Figuren und deren gemeinsame Interaktion, sondern auch deren Intentionen auf dieser Speed-Dating-Plattform zu verstehen. 

Mit seinem weißen Pullover, seiner Rundbrille und seinem gezückten Kugelschreiber entspricht der erste Speed-Dating-Kandidat, Karsten Brehm (alias Tjark Bernau), genau dem klischeehaften Bild eines konservativen Arztes, der seinen Beruf an erster Stelle setzt und mit seiner egozentrischen Art jeden in den Schatten stellen möchte. Seine Dating-Partnerin Meike (alias Britta Hammelstein) hingegen ist ein lebender Freigeist, der den Kontrast zur bürgerlich-konservativen Elite symbolisiert. Während Karsten Brehm von der Vernunft geleitet wird, ist Meikes zuverlässiger Wegweiser die Freude am Leben. Der Zuschauer wird dadurch auf zwei unterschiedliche Lebenskonzepte aufmerksam gemacht, die in einer späteren gemeinsamen Beziehung für viel Zündstoff sorgen könnten, wenn sie nicht in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden. 

Fragen-Ping-Pong als intellektueller Konversationskiller

Gleich von der einen auf die nächste Sekunde muss man sich von der alten Szene verabschieden und sich geistig auf die Performance von neuen Charakteren einlassen

„Zwiebel oder Knoblauch … Katze oder Hund … Tom Cruise oder Schwarzenegger?“ 

Immobilienmakler Steven von Bizzelslöwen und Kashmir-Label-Inhaberin Emma Friedel

Anstatt eines romantisch und intellektuell hochwertigen Gesprächs, bekommt der Zuschauer ein unerwartet-kindisches „Entscheide-Dich-Spielchen“ zwischen einem schnöseligen Immobilienmakler (alias Alexander Khuon) und einer Kashmir-Label-Inhaberin (alias Franziska Machens) zu sehen. Dabei verharren beide Figuren in ihrer infantilen Rolle, um dem wirklichen „Ernst“ der Kennenlernsituation zu entfliehen.

Immobilienmakler Steven von Bizzelslöwen (alias Alexander Khuon) und Kashmir-Label-Inhaberin Emma Friedel (alias Franziska Machens) Foto:M94.5/Georgia Tsonis

Freundschaft statt Liebe

Der Bildschirm leuchtet kurz auf und man wird von einem leicht angeschwipsten Evolutionsbiologen (alias Philippe Goos) begrüßt, der seine Dating-Partnerin Mascha (alias Judith Bohle) bereits nach kurzer Zeit zum Lächeln bringen kann. Obwohl die beiden eine gemeinsame Vorliebe für Hochprozentiges teilen und zusammen in nostalgische Musikflashbacks verfallen, hat nur ein einziger Satz von Mascha ausgereicht, um die Traumblase einer gemeinsamen Zukunft zum Platzen zu bringen. Denn das Erwähnen ihrer schmerzlichen Trennung von ihrem Verflossenen katapultierte ihren Dating-Partner direkt in die Friendzone. 

Schau mir in die Augen, Kleines

Als sich der Vorhang der virtuellen Bühne für den Regisseur Tobias Weinberger (alias Camill Jammal) und für die sexwillige Jungfrau Mirslawa (alias Lisa Hrdina) öffnet, fühlt man sich wie im falschen Film gefangen. Relativ schnell wird dem Zuschauer bewusst, dass Liebessuchende anscheinend nicht immer dieselben klischeehaften Vorstellungen von Geborgenheit und Liebe besitzen, wie man selbst. Mit seinem halbnackten Auftreten, seinem lässigen Dreitagebart und seiner Schmalzlocke im Gesicht treibt der charmante Regisseur seine Dating-Partnerin in den sexuellen Wahnsinn. Als er für sie ein klassisches Lied anstimmt und sie anfangt, sich dabei sexuell zu befriedigen, kann man als stiller Beobachter nur verschämt zur Seite schauen und peinlich berührt den Kopf schütteln. 

Regisseur Tobias Weinberger (alias Camill Jammal) und die bekennende Jungfrau Miroslawa (alias Lisa Hrdina) Foto:M94.5/Georgia Tsonis

Authentizität als Dating-Garant

In der letzten Szene scheint der Ultra-Läufer Torro (alias David Rott) in seinem Radler-Outfit und die Pilotin Colette Sanders (alias Nikola Lenk) mit ihren Kuscheltiersammlung im Hintergrund auf der gleichen Wellenlänge zu sein. Auch wenn sie anfänglich über belanglose Dinge sprechen, haben sie relativ schnell den Small-Talk überwunden und sind auf die persönlichere Ebene übergegangen. Damit haben sie die erste Brücke des Vertrauens geschaffen, die sie mit der Zeit weiter ausbauen können. Besonders gelungen ist hierbei auch das Ende der allerletzten Szene, in der Colette Sanders (alias Nikola Lenk) ihre Faust leicht in die Höhe streckt. Die Art und Weise, wie sie die Handbewegung ausführt, erinnert an die Schlussszene von „Breakfast Club“, in der John Bender die Faust in den Himmel reckt, als er mit dem Mädchen seiner Träume zusammenkommt. Auch nachdem der Bildschirm bereits schwarz geworden ist, philosophiert man weiterhin, ob die Faust als Zeichen einer Liebesbekundung oder doch eher Symbol für die eigene Akzeptanz und Selbstliebe interpretiert werden sollte.


Für diejenigen, die gerne in die Rolle eines Paartherapeuten schlüpfen möchten, ist die Webserie „Zeitfüreinander“ die perfekte Möglichkeit, die Entstehung von Liebe aus einer ganz neuen Perspektive heraus zu betrachten. Interessierte der Webserie „Zeitfüreinander“ können die erste Staffel kostenlos streamen.