
Ein Essay
Warum ich nicht mehr zur Vorlesung gehe
Von der ersten Klasse bis zum Doktor-Titel geht es in Deutschland um Noten. Das lenkt uns vom Wesentlichen ab – eine effektive Bildung geht auch ohne sie.
Ich studiere Geschichte und jeden Mittwoch gehe ich nicht in meine Vorlesung. Das Thema interessiert mich und mein Professor ist auch nicht das Problem – nur schreibe ich am Ende keine Prüfung. Und damit lohnt es sich für mich schlicht nicht, am Mittwoch in die Uni zu fahren. Mein Stundenplan ist voll genug und meine Zeit investiere ich am besten da, wo ich mein Studium voranbringen kann.
Und so beginnt das Dilemma. Denn eigentlich habe ich mein Studium begonnen, weil ich mehr über unsere Welt und ihre historischen Wurzeln lernen wollte. Aber wenn ich mal ein Stipendium oder einen Masterplatz bekommen will, dann brauch ich dafür gute Noten – und wenn ich gute Noten will, dann sollte ich mittwochs lieber für meine Prüfungen lernen.
“When a measure becomes a target, it ceases to be a good measure“, das schrieb der britische Ökonom Charles Goodhart schon 1975. Auf Deutsch heißt das etwa: Wenn ein Messwert zum Ziel wird, taugt er nicht mehr als guter Messwert. Exakt das passiert an unseren Universitäten: Bildung ist das Ziel und gemessen wird es in Noten. Für uns Student:innen sind die Noten relevant, wir fokussieren uns auf sie – und auf einmal müssen wir zwischen unserem ursprünglichen Ziel und dem, wie es gemessen wird, wählen.
Noten sollen Schüler- und Student:innen motivieren und irgendwie klappt das ja auch. Aber es ist eine äußere Motivation, die immer schon die Peitsche in der Hand hält. Noten nehmen der Bildung die Leichtigkeit und zwängen die Neugier in ein enges Korsett aus Referaten, Hausarbeiten und Klausuren.
Bildung könnte eigentlich ganz anders sein
Dabei sollte das alles mal ganz anders sein. Wilhelm von Humboldt sollte Anfang des 19. Jahrhunderts das preußische Bildungssystem reformieren und hatte sein eigenes Ideal von Bildung: Humboldt sah im Lernen einen Weg zu einer guten Gesellschaft. Die Menschen sollten nicht nur für einen bestimmten Beruf ausgebildet werden, sondern sich selbst zu vielseitigen und mündigen Staatsbürger:innen aufschwingen.
Bis heute wurden seine Vorstellungen höchstens teilweise umgesetzt. Spätestens seit der Bologna-Reform von 1999 entwickeln sich Universitäten und Hochschulen wieder in eine andere Richtung. Damals wurde ein einheitlicher europäischer Hochschulraum geschaffen. Die Reform sollte Abschlüsse vergleichbar machen und das Studium im Ausland vereinfachen. Dafür gab es mehr klare Modulbäume und regelmäßige Prüfungen – kurz: die Universitäten wurden mehr wie Schulen.
Dabei bewegen sich Schulen selbst längst in eine andere Richtung. Es gibt seit langem eine Debatte über Noten im Unterricht: Wissenschaftler:innen zeigen die Willkür auf, mit der teilweise benotet wird und testen in Pilotprojekten neue Wege, Leistung zu messen und Feedback zu geben. In den Universitäten bleibt das alte System unhinterfragt.
Eine unerwartete Seite könnte helfen
Besserung könnte von einer unerwarteten Seite kommen: der Wirtschaft. Durch Noteninflation und einen neuen Fokus auf Fähigkeit statt eines Wissens, setzten Unternehmen heute oft auf eigene Auswahlverfahren. Die Abschlussnote verliert also an Bedeutung; gefragt wird, was man gelernt hat und nicht, wie dieses Referat im zweiten Semester lief. Ausgerechnet der Markt könnte also dafür sorgen, dass es sich wieder lohnt, (kurzfristig) unproduktive Univeranstaltungen zu belegen. Wenn das so ist – vielleicht sieht man mich dann auch wieder mittwochs in der Vorlesung.