SPIELART FESTIVAL 2021

L’HOMME RARE

/ / Bild: Ruben Pioline

Sind ausladende Hüftbewegungen “unmännlich”? In Nadia Beugrés Tanzperformance werden vermeintlich geschlechtsspezifische Bewegungen hinterfragt – mit Ausdrucksstärke und viel nackter Haut.

Es gibt keine “männlichen” und “weiblichen” Bewegungen – nur universelle, sagt Nadia Beugré und: “Wir alle haben Hintern”. Hintern, mit denen gewackelt werden kann, Hüften, die gekreist werden dürfen und das nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern. Wieso lesen dann manche Hüftbewegungen als “weiblich”? Beugré und ihre fünf Tänzer, die sich alle dauerhaft oder vorübergehend als Männer definieren, möchten mit diesen starren Konstrukten von Männlichkeit und Weiblichkeit aufräumen. Und das gelingt ihnen.

Der Po und die Hüfte liegen bei L’Homme rare im Fokus Bild: Ruben Pioline

Nacktheit und Voyeurismus

Der Abend beginnt mit fröhlich rhythmischen Klängen, zu denen die Tänzer in bunten Klamotten auf die Bühne kommen. Sie tanzen energetisch durch die Reihen und animieren das Publikum dazu, mitzumachen. Währenddessen entledigen sie sich nach und nach ihrer Kleidung, lassen Schicht um Schicht fallen, ziehen sich am Ende gegenseitig mit den Zähnen die Unterhose herunter, bis sie komplett nackt mit dem Rücken zum Publikum stehen.

Als die Musik verklingt, verändert sich die Atmosphäre. Einer tritt hinaus ins Scheinwerferlicht, nackt, verletzlich und zugleich souverän und schön. Er beginnt, verschiedene Posen einzunehmen, die anderen tun es ihm gleich. Dann bilden die Tänzer eine Viererkette, legen sich die Hände gegenseitig auf den Po und beginnen mit großen Schritten durch den Raum zu gehen. Sie inspizieren vorsichtig die Körper der Kollegen, klapsen sich auf den Hintern, spielen Fangen und versuchen, den Po des anderen zu treffen. Es ist ein spielerischer und zugleich selbstbewusster Moment, der Schmunzeln und leises Lachen im Publikum auslöst.

Tücher spielen bei L’Homme rare ebenfalls eine wichtige Rolle. Bild: Anthony Merlaud

Dekonstruktion von Geschlechtlichkeit

Durch die Nacktheit und das konsequente mit dem Rücken zum Publikum stehen lenkt Beugré den Fokus auf das zentrale Körperteil der Performance: den Hintern/die Hüfte. Es weist die Zuschauenden aber auch auf ihre Position als Voyeur:in hin, deren Blicken sich die Performer die ganze Zeit aussetzen. Auch wirft sie Fragen auf, inwiefern man aus europäischer Sicht auf schwarze Körper blickt und wie man Körper generell automatisch beurteilt.

Wie werden Geschlechterkonstrukte in L’homme rare nun hinterfragt? Neben Bewegungen spielen da auch die Requisiten der Tücher und der Highheels eine Rolle. In verschiedenen choreografischen Szenen benutzen die Tänzer die weißen Tücher, um daraus Kleidung zu formen, wie etwa Röcke und andere “weiblich” assoziierte Gewänder. In ihnen führen sie mal eckige, mal wellenförmige, mal schnelle Hüftbewegungen aus. Durch das Vermischen von “weiblichen” und “männlichen” Attributen wird diese Zuordnung im Laufe der Performance immer mehr aufgeweicht, bis man sich überhaupt nicht mehr fragt, ob eine bestimmte Bewegung einem Geschlecht zugeordnet werden kann. Was ist das überhaupt, das Geschlecht? Die fünf Tänzer machen sich alle möglichen (Hüft-)Bewegungen zu eigen und entschlechtlichen sie damit. Ihre Performance ist dabei von Selbstbewusstsein und kraftvollem Ausdruck geprägt.

Der ungewöhnliche Mann

Nadia Beugré schafft es außerdem in ihrer Choreografie immer wieder sehr starke, im Gedächtnis bleibende Bilder zu schaffen. So gibt es, zum Beispiel, eine Szene, in der der Tänzer Lucas Nicot versucht, in den roten Lack-Highheels zu laufen, während Vadel Guei, Daouda Keita, Nadim Bahsoun und Marius Moguiba von Kopf bis Fuß verhüllt, reglos in einem Viereck stehen. Nicot rennt durch sie hindurch, dreht sich, strauchelt, fällt spektakulär mit den hohen Schuhen hin, steht wieder auf. Versucht es erneut. Fällt erneut, es schmerzt beim bloßen Hinschauen. Die Szene hat etwas sehr Fragiles, Verletzliches und auch etwas sehr Schönes, wie er versucht, mit den Schuhen zurechtzukommen.

Am Ende steht die Frage im Raum: Wer ist nun eigentlich dieser “l’homme rare”, dieser ungewöhnliche Mann? Einer, der über das Geschlecht hinaus geht, einer, der kein Geschlecht hat, sagen die Tänzer danach im Künstler:innen-Gespräch, denn: “Eine Bewegung ist eine Bewegung” und eine Hüfte eine Hüfte. Männer dürfen ebenso Weiblichkeit in sich tragen und zeigen, wie Frauen Männlichkeit. Doch diese Geschlechterkonstruktionen scheinen nach dieser Performance sowieso ziemlich überholt. Das haben die fünf Tänzer in diesem Stück auf mutige und eindrucksvolle Weise bewiesen.

L’Homme rare von Nadia Beugré lief vom 24. – 26.10.21 auf dem Spielart Festival.