KONZERTREVIEW

JOHNNY MARR IM BACKSTAGE WERK

/ / Bild: Juno Graner

Eine seltene Sensation, auf die es sich hinzufiebern lohnt: Am 1. November 2025 war Smiths-Gründungsmitglied und Gitarren-Ikone Johnny Marr für ein Konzert im Backstage Werk München.

DER FRÜHE VOGEL CRASHT DEN SOUNDCHECK 

Schon ganze drei Stunden vor dem Auftritt des ehemaligen Smiths-Gitarristen campen die Fans vor dem Tor des Backstage Werks München. Die meisten von ihnen sprechen Englisch, aber auch italienische, spanische, und deutsche Sprachfetzen sind aus der Gruppe zu hören. Aus jeder Ecke Europas scheinen die Fans gekommen zu sein, um den Musiker zu sehen, manche folgen ihm sogar für mehrere Konzerte nach. Keine Überraschung, denn dessen letzte Deutschland-Tour ist schon über zehn Jahre her.  

Für die eifrigsten Fans wird sich die Frühzeitigkeit an diesem Nachmittag besonders gelohnt haben: Drei Stunden vor Einlass öffnen sich die Türen zur Halle. Eine Gruppe Fans stürmt die Bühne, überrumpelt dabei die noch probende Band. Marr, der noch in Straßenkleidung und Beanie auf der Bühne steht, reagiert nach einem kurzen Moment der Verwirrung cool. „Wenn ihr euch da hinten hinsetzt, könnt ihr bleiben“, sagt er und deutet auf die Seitentribünen. „Filmen dürft ihr aber nicht“, schiebt er hinterher, als ein übereifriger Fan das Handy zückt. 

Johnny Marr Slaying Hard. BILD: Juno Graner

MUSIKLEGENDE MIT INDIE-CHARAKTER  

Ihren offiziellen Auftritt eröffnet die vierköpfige Band mit „Generate! Generate!“, einem der rockigsten Songs aus Marrs Diskographie, der dem 2012 erschienenen Debutalbum „The Messenger“ entstammt. Auf der Setlist dabei haben sie ein buntes Repertoire aus den bisher vier Soloalben Marrs, einige Hits aus den Diskografien der Smiths und Electronic, eine Iggy-Pop-Coverversion. Außerdem bieten sie mit den aufregenden Singles „It’s Time“ und „Spin“ einen ersten Vorgeschmack auf ein kommendes neues Album.  
Marrs Band zählt dabei auf Garage Band-Minimalismus, funktioniert mit bemerkenswert simplem Setup: Die vier erfahrenen Musiker spielen mit Aufklapp-Keyboard, Bass-Pedalboard und einem großen Drumset, wobei Marr selbst zwischen drei Exemplaren seiner inzwischen zum Markenzeichen gewordenen ikonischen Fender Jaguar rotiert. Keine Selbstverständlichkeit für Marr, dessen in der Post verloren gegangene Gitarren erst im September 2025 für Furore in der Musikwelt gesorgt hatten.  

Ein besonders ersehntes Highlight spielt Marr schon früh in der Show an dritter Stelle: Die 2019 veröffentlichte Single „Armatopia“, deren dystopisch-fantastische Endzeitstimmung den Zeitgeist der Klima-Ängstlichkeit der späten 2010er Jahre einfängt und die nicht nur aufgrund ihres Features auf dem FIFA-Soundtrack zum unverhofften Fan-Favoriten geworden ist. Deren melancholisch-kratziger Elektro-Grunge, der in der Studioversion zeitweise hinter den sprungfederartigen Synthesizer-Bögen des langjährigen Marr-Keyboardisten James Doviak verblasst, findet auf der Bühne zu seiner ursprünglichen Position im Mittelpunkt der Musik zurück. 

So let’s dance to the sound of our time running out / 

Watch the smoke on the breeze of the rising seas /  

Going down, down down and round, round round / 

Cause we’re so history.“  


„Armatopia“ ist eine Hymne an die Vergänglichkeit der Menschheit, die sich zu keiner Zeit zu moralischer Vormachtstellung verleiten lässt. Ein sensibler, aufgeweckter Track, dessen einfacher Refrain auf ironische Weise zum gemeinsamen Eskapismus einlädt. Es ist diese Mischung aus geistreicher Poesie und tanzbarer Instrumentierung, die Marrs Musik noch Jahrzehnte nach seinem Aufstieg in der Musikwelt das gewisse Etwas verleihen.  

GITARRENWUNDERKIND AM WERK  

Ein besonderes Highlight des intimen Konzerts ist das durch und durch entspannte Selbstbewusstsein, das Marrs gesamtes Auftreten prägt. Die hochkomplizierten Arpeggio-Läufe, die schon seit der Smiths-Zeit Marrs musikalisches Werk prägen, fliegen fehlerlos und lässig von den Saiten, sind dabei so flink, dass das bloße Auge sich darum bemühen muss, ihnen zu folgen. Ansteckend ist neben der Musik aber vor allem die Stimmung des Künstlers, der sich das verschmitzte Lächeln nicht verkneifen kann, bewusst den Augenkontakt mit seinem Publikum sucht, immer wieder lachen muss. 

„Es ist zu lange her“, sagt er an einem Punkt gegen Ende der Show, spielt damit auf die lange Live-Pause an, die seit dem letzten Deutschland-Auftritt 2018 verstrichen ist. Es ist der Eindruck eines Mannes, der liebt, was er zu tun bestimmt ist, dessen Leidenschaft sich nicht allein aus dem eigenen Talent, sondern maßgeblich aus der beidseitig tief respektvollen Interaktion mit seinem Publikum speist.  

ZWISCHEN NOSTALGIE UND NEUBEGINN  

Dass sich der ehemalige Smiths-Gitarrist auch im Alleingang mehrere Hits seiner früheren Band zu eigen macht, ist anhand seiner Kontribution zu deren Katalog nicht erstaunlich, lässt aber wertvolle Schlüsse über seine persönliche Interpretation erkennen. Marrs Herangehensweise scheint dabei erfrischend grundständig, geradeheraus, No-Nonsense. Wenig Interesse schenkt er den musikalischen Verschnörkelungen der ursprünglichen Vertonung, überspringt elaborierte Koloraturen und ersetzt trocken-ironisch einzelne melodramatische Textpassagen.  

„And now I know how Johnny Marr felt…  
Now I know how Johnny Marr felt.“  

Nur an einer Stelle des Konzerts scheint Marr den Geistern seiner Vergangenheit einen Platz auf der Bühne zu bieten. Für sein Cover des Smiths-Klassikers „Please, Please, Please Let Me Get What I Want“ greift er zur Akustikgitarre. Dass die Stimmung im Saal, die nur fünf Minuten zuvor immer wieder in begeisterten Jubel und fußballartige Sprechgesänge ausgebrochen ist, nun urplötzlich eine andächtige ist, liegt nicht nur an der minimalistischen Instrumentierung.  
Marr, der öffentlich für seine schonungslose Abhandlung mit der inzwischen lang vergangenen Bandgeschichte bekannt ist, vermittelt mit dieser besonderen Vertonung unverstellt echte Emotion. Kurz wirkt der Künstler selbst weit entfernt, vor den Augen seines Publikums versunken in der eigenen Erinnerung. Eine Stimmung, die zur gemeinsamen Nostalgie einlädt, dabei trotzdem nie den Anschluss an die Gegenwart verliert und mit Beginn des nächsten Tracks auf der Setlist so schnell verklingt, wie sie aufgekommen ist. 

Heaven exists and it is Johnny Marr. BILD: Juno Graner

Dass Marr ein Sinn für hohe Poesie vollends fehle, könnte ihm unmöglich unterstellt werden. Vielmehr subtil vermittelt Marr seine Texte, verzichtet auf sprachliche Verschlüsselungen zumindest zugunsten einer Authentizität, die sich wie aus langjähriger Bühnenerfahrung aus einem bewussten Respekt vor der Autonomie der Musik zu ergeben scheint. Wo die von ihm neu vertonten Smiths-Klänge ihr leicht unnahbares Melodrama erhalten, treten die Vocals seiner eigenen Veröffentlichungen nicht selten hinter der Musik zurück, lassen der verblüffenden Fingerfertigkeit des unbestrittenen Gitarren-Wunderkinds Marr jede Möglichkeit zur Selbstentfaltung.