Daniel Sponsel im Interview

In fremde Lebenswelten hineinschauen

/ / Bild: Dok.fest München

Das DOK.fest findet auch dieses Jahr wieder komplett online statt. Welche Erfahrungen Festivalleiter Daniel Sponsel aus der letzten Ausgabe mitnehmen konnte, was er an Dokumentarfilmen so spannend findet und wie viel Wirklichkeit eigentlich in einer Doku steckt, hat er im Interview mit M94.5-Reporterin Janina Rohleder erzählt.

Herr Sponsel, Sie leiten jetzt schon seit 2009 das DOK.fest. Wie sind Sie eigentlich zu der Position gekommen?

Oh, das ist eine gute Frage. Ich glaube den Job für eine Festivalleitung hat man in seiner Karriereplanung nicht so auf dem Zettel. Das ist etwas, das einem über den Weg läuft. Ich habe ja Filmregie studiert, habe selbst Filme gemacht, Film unterrichtet und Filmkritik und Filmforschung betrieben. So habe ich verschiedenste Ansätze für Dokumentarfilm in meiner Arbeit gehabt. Dann gab es diese Ausschreibung und die hat mich interessiert, weil da ja alles zusammenkommt: das Arbeiten mit Film und über Film. Das hat mich sehr interessiert und das hat geklappt.

Sie arbeiten selbst auch als Regisseur und Kameramann für Dokumentarfilme. Inwiefern hilft Ihnen das im Auswahlprozess der Filme für das DOK.fest? Auf welche Kriterien achten Sie da?

Es gibt zwei Aspekte der Arbeit. Das eine ist die Kompetenz für das Urteilen über die Filme oder überhaupt die filmische Kompetenz bei der Programmzusammenführung. Das andere ist natürlich die Frage des Kulturmanagements. Wenn man das Verständnis für die Filme mitbringt wie ich es tue, dann hilft einem das natürlich sehr bei der Beurteilung. Und unsere Kriterien sind vielgestaltig. Angefangen von der Frage, welcher Film hat ein relevantes und aktuelles Thema, das man unbedingt präsentieren muss, bis hin zur Frage, welcher Film ist künstlerisch besonders wertvoll. Das ist ein breites Spektrum des Auswahlkriterien.

Das DOK.fest findet nun auch 2021 wieder komplett online statt. War das so von vornherein geplant?

Nach der Online-Edition im letzten Jahr waren wir uns sicher, dass wir in diesem Jahr dual stattfinden können. Wir haben online mitgeplant, auch zur Sicherheit natürlich, und wollten auf jeden Fall zurück in die Kinos, aber das geht ja überhaupt nicht. Wir haben uns dann Ende März relativ spät erst entschieden, diese Planung nicht weiter zu verfolgen. Wie wir heute wissen, wäre das auch nicht gut gegangen, wenn wir mit der Hoffnung geplant hätten, dass die Kinos Anfang Mai doch wieder aufmachen.

Welche Erfahrungen und Lehren haben Sie denn von der Ausgabe aus dem letzten Jahr mitgenommen?

Wir sind ja letztes Jahr sehr kurzfristig von der Präsenzveranstaltung in die Online-Edition “digitale Leinwand” umgezogen. Wir hatten sieben Wochen Vorbereitungszeit und haben da sehr intensiv gearbeitet und viele Erfahrungen gesammelt, die wir dieses Jahr gut nutzen konnten. Wir haben natürlich früher anfangen können, das ist schon ganz wesentlich für den Prozess. Dann ist über das Jahr hin viel in der Entwicklung von Tools, um sich im Netz zu begegnen, passiert. Bei einem Festival ist ja das eine Filme zu präsentieren. Das andere ist der Austausch, die Interaktion, die mittlerweile digital durch diese verschiedenen Tools zunehmend gut funktioniert und angenommen wird. Das erleben wir jetzt auch beim Festival, dass wir da einiges mehr an Aktivitäten haben: Filmgespräche und Veranstaltungen, die interaktiv sind und wo sich Leute international begegnen.

Welche Möglichkeiten zur Begegnung gibt es denn genau?

Wir haben das Live-Filmgespräch, wo Zuschauer:innen chatten können und die Fragen direkt mit aufgenommen werden. Das ist gerade jeden Abend. Wir haben auch im Branchenbereich jeden Morgen die DOK.fest-Bar, also ein gemeinsames Frühstück online, wenn man so möchte und wir haben jeden Abend den Wonderroom offen, wo sich Publikum und Filmemacher:innen begegnen können. Da gibt es einige Möglichkeiten.

Was sind denn die diesjährigen Themenschwerpunkte?

Wir haben ein breitgefächertes Programm. Wir haben 131 Filme dieses Jahr , da ist ein diverses Programm tatsächlich möglich. Wir haben jedes Jahr eine Fokusreihe, die ein Thema wirklich fokussiert und die heißt dieses Jahr “Empowerment”, weil wir bei den Einreichungen eine ganze Anzahl an Filmen gesehen haben, die sich verschiedenen Bürgerbewegungen widmen. Angefangen bei Umwelt und Natur, zur Genderdebatte, zur Metoo-Debatte. Darüber hinaus haben wir Kanada als Gastland, da zeigen wir sechs Filme. Das ist aus unserer Perspektive ein sehr interessantes Land, über das wir eigentlich zu wenig wissen.

Sie haben ein Buch mit dem Titel Der Dokumentarfilm ist tot, es lebe der Dokumentarfilm mit herausgegeben. Darin schreiben Sie, dass der Dokumentarfilm die “wichtigste zeitgenössische audiovisuelle Kunst” sei. Was interessiert Sie an diesem Genre?

Ich finde tatsächlich den Dokumentarfilm die Kunst der Stunde in der Hinsicht, dass es äußerst spannend ist, in fremde Lebenswelten hineinzuschauen. Das ist für mich der größte Wert: dass ich anderen Menschen, anderen Kulturen, anderen Denkweisen, anderen Lebensformen begegne in einer Art und Weise, in der ich das in Wirklichkeit nie könnte, weil ich ja in ganz vielen Milieus oder Ländern nicht zuhause bin. Der Dokumentarfilm schafft es durch seine narrative Form und auch das lange Format, daraus jeweils eine Erzählung zu generieren. Dokumentarfilm ist ja nicht primär Information, sondern Interpretation der Welt und die Filme bieten mir eine Form, die dann diesem Einblick in die Lebenswelt gerecht wird. Das ist ganz großartig und ganz wertvoll, auch als persönliche Erfahrung.

Im März diesen Jahres ist eine Debatte um den Film Lovemobil entstanden, der sich als Dokumentarfilm ausgegeben hat, aber über weite Strecken “nicht authentische” beziehungsweise gestellte Szenen enthält. Der Film lief 2019 auch auf dem DOK.fest. Wie stehen Sie zu dieser Debatte?

Das ist gleichermaßen einfach und komplex zugleich. So wie es in dem Film Lovemobil passiert, dass Menschen nicht die sind, die sie sind und die dann bestimmte andere Menschen und Biografien oder Lebensgefühle nachspielen, das muss man ausweisen, das ist ganz klar. Das kann dann nicht als Dokumentarfilm durchgehen, das sind ganz klar auszuweisende fiktionalisierte Szenen. Und das kann man machen, das darf man machen, aber das muss man dann auch sagen. Das andere ist, dass natürlich jeder Dokumentarfilm die Wirklichkeit interpretiert. Das heißt, man lässt in einem Film ganz viel von dem Material weg, das man hat. Muss man, weil man auf 90 Minuten kommen muss. Man überhöht, man muss teilweise dramatisieren, man setzt Musik ein. Das heißt der Dokumentarfilm nutzt natürlich auch cinematographische Mittel, um seine Erzählung zu gestalten und da ist immer die Frage, was ist der Authentizität zuträglich und was nicht. Aber das definiert auch jeder Film für sich selbst, da gibt es keine Grundregel, außer, dass die Inszenierung ausgewiesen sein muss.

Ich persönlich finde es manchmal schwierig, wenn ein Dokumentarfilm zu viel mit cinematographischen Mitteln arbeitet und, zum Beispiel, sehr viel Musik einsetzt. Da fühle ich mich manchmal fast “manipuliert”. Aber grundsätzlich finde ich das eine spannende Frage, wie man bei einer Doku am meisten Realität zeigen kann.

Ja, wobei es ja immer auch um eine Interpretation der Realität geht. Ein gutes Beispiel in unserem Programm ist der Film Land von Timo Großpietsch, der uns sehr statische, sehr ästhetische Bilder von Arbeit und Leben auf dem Land in Norddeutschland zeigt. Es ist nicht dramatisiert, sondern einfach ein Bilderrausch. Und dieser Film ist permanent durch Musik begleitet von Vladyslav Sendecki, dem Jazz-Pianisten. Das ist natürlich eine mutige Interpretation von Wirklichkeit, aber das ist dann auch die Qualität dieses Films und das ist in dem Moment jedem klar, dass die Musik etwas mit mir machen will. Das gehört dann zur Rezeption dazu und das ist auch der Reiz am Dokumentarfilm: dass ich der Erzählung etwas zugebe, was die Wirklichkeit auch weitergehend und eben filmisch interpretiert.

Zum Abschluss: was wünschen Sie sich denn für das diesjährige DOK.fest?

Ich wünsche mir, dass die Filme, die wir haben, gesehen werden. Wir haben ein Jahr an dem Programm gearbeitet und da wünscht man sich natürlich, dass es auch viel gesehen wird. Und dass man miteinander redet, das ist ja auch digital möglich.

Das DOK.fest München läuft vom 05.-23. Mai 2021. Sämtliche Filme können auf der Website des Festivals angeschaut werden.