Krieg in der Ukraine

Ich habe drei Herzen. Zwei davon bluten gerade.

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M94.5-Redakteurin Swetlana Melnichuk hat Wurzeln in vielen verschiedenen Oststaaten, auch in der Ukraine. Aus diesem Grund trifft sie der Krieg wie viele weitere Ukrainer:innen, die derzeit in Deutschland leben. Denn in ihrer Brust schlagen drei Herzen – ein ukrainisches, ein russisches und ein deutsches. Sie schildert uns das, was wir verstehen, aber nicht nachvollziehen können.

Ich bin in Kasachstan geboren, Russisch ist meine erste Muttersprache. Ich habe als Kind viel Zeit in einem russischen Dorf namens Kartaly bei meiner Familie verbracht. Ich habe einen ukrainischen Nachnamen und war als Ukrainerin im Pass eingetragen. Meine Oma hat ausschließlich deutsche Wurzeln und so bin ich zu einem Viertel Deutsche. Meine Urgroßeltern hatten ein Haus auf der Krym, was ihnen in der Sowjetunion enteignet wurde. Ich trage also drei Kulturen und drei Herzen in mir. Ich bin ein typisches postsowjetisches Mischlingsbaby, das wie viele Millionen von uns in Deutschland lebt und den Krieg in der Ukraine mitverfolgt und mitfühlt.

Die Panik, wenn dir niemand mehr antwortet

Was fühlen die Menschen, deren Herzen auf zwei Länder verteilt sind? Trauer? Wut? Zorn? Angst? Sie fühlen alles. Seit über einer Woche ist das Telefon zu unserer wichtigsten Verbindung geworden. Wir geraten in Panik, wenn die Freund:innen und Familie mal sechs Stunden nicht antworten. Facebook ist überströmt mit Bitten und Hilfeschreien, weil Mariupol seit sechs Tagen nicht antworten. Die Angehörigen reagieren nicht auf Nachrichten.

Was fühlt das ukrainische Herz?

Was hat mein ukrainisches Herz am ersten Tag des Kriegs gefühlt? Panik. Panik und Wut. Der Krieg ist nicht da, das kann einfach nicht wahr sein. Du traust dich nicht, das Wort in den Mund zu nehmen. Und dann sagst du es: Es ist Krieg. Plötzlich packt dich etwas am Herzen und deine Brust glüht vor Schmerz. Es ist dein Herz, das für deine Heimat blutet. Und es hört nicht auf. Seit elf Tagen hört es nicht auf. Dein Herz blutet für jeden Vater, der bei einem Angriff stirbt und für jedes Kriegsbaby, das in der U-Bahn geboren wird.

Survivor’s-Guilt-Syndrom und die Frage nach der Schuld

Und dann packt sie dich. Die Schuld. Jeden Tag packt sie dich, jeden Tag fühlst du sie. Schuld, wofür? Du bist hier im Warmen. Dein Himmel ist hell und friedlich. Deine Nächte ruhig. Du sitzt im Theater und alles, woran du denkst ist: Du kannst hier entspannt sitzen und die Vorstellung genießen, während die Eltern deines guten Freundes ihre Heimatstadt Kiev verlassen. Sie sind geflohen und warten seit drei Tagen, um über die Grenze zu kommen. Du fühlst dich schuldig, wenn du lachst, und du fühlst dich schuldig, wenn du fröhliche Musik hörst.

In der Psychologie nennt sich das Überlebensschuld-Syndrom oder Survival-Guilt-Syndrom. Dabei werden betroffene Personen von schweren Schuldgefühlen geplagt, weil sie ein extremes Ereignis z.B. Unfall, Amoklauf, oder Krieg überlebt haben, während viele andere Menschen durch oder bei diesem Ereignis ums Leben gekommen sind. Ich verstehe nicht, warum ich das fühle. Die Seelsorge erklärt es mir: Ich musste als Kind auch meine Heimat verlassen, und ich wusste lange nicht warum. Ich habe alle meine Freunde, meine Verwandten und mein Haus verlassen müssen, und kannte die deutsche Sprache nicht.

Von Gedanken umzingelt

Was fühlt mein ukrainisches Herz jetzt? Unendlichen Schmerz, der sich in Tränen nicht auflösen kann. „Wie geht es dir?“, fragt mich meine Mitbewohnerin in der Küche. „Na ja, man hilft und weint“, antworte ich. Wir spenden und helfen. Aber wenn deine Freund:innen oder ihre Familien getötet werden, dann hilft auch keine Spende mehr. Und all diese Gedanken umgeben mich ständig. Und man kann sich nicht vor ihnen verstecken.

Was fühlt das russische Herz?

Und was fühlt mein russisch erzogenes Herz? Angst und Schmerz. Angst um die Freund:innen, die in Sankt-Petersburg protestieren und dabei ihre Freiheit riskieren. Angst um die Freund:innen, die seit Jahren in Deutschland leben und dennoch täglich Hassnachrichten erhalten, dass der ganze Krieg ihre Schuld sei. Und der Schmerz? Mein Herz fühlt Schmerz für meine Familie, die sich die Medikamente nicht mehr leisten kann. Mein Herz fühlt den Schmerz für meine Freund:innen, die sich Lebensmittel nicht mehr leisten können, weil die Preise innerhalb von zwei Tagen auf das Zehnfache gestiegen sind. Und mein Herz fühlt den Schmerz für all die jungen Männer, die in den Krieg geschickt werden, den sie sich nicht ausgesucht haben. Können sie sich weigern? Ja, aber dafür müssen sie entweder hohe Geldstrafen zahlen oder kommen ins Gefängnis. Es ist eine neue Ära des Leids in unserem kollektiven Gedächtnis und es nimmt einfach kein Ende.

Meine Herkunft, meine Herzen, meine Liebe

Seit elf Tagen herrscht in der Ukraine Krieg, seit elf Tagen fragen mich Mitmenschen, woher ich komme. Und seit elf Tagen kann ich mir die Frage nicht mal selbst beantworten. Eines weiß ich sicher: Ich trage die drei Herzen in mir und werde keines davon abstoßen. Ich werde alle meine Herzen und damit auch alle Menschen in allen meinen Herzen mit Liebe behüten. Denn Liebe ist die einzige und die beste Antwort auf einen Krieg.