Ein Porträtfoto der M94.5-Redakteurin Aylin Sancak

KOMMENTAR

Die Festung Europa tötet

/ / Bild: M945 / Vroni Kallinger

Bei einem Bootsunglück vor der italienischen Küste sind am Sonntag mindestens 58 Geflüchtete ums Leben gekommen. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, nennt den Vorfall auf Twitter eine ,,Tragödie”. M94.5-Redakteurin Aylin Sancak findet das heuchlerisch. Denn dass Geflüchtete an den EU-Außengrenzen sterben, ist eine politische Entscheidung und keine unvorhersehbare Tragödie. 

2015 ging ein Foto um die Welt, welches die Menschen schockierte: Der zwei Jahre alte Alan Kurdi war auf der Flucht aus Syrien ertrunken und lag reglos an einem türkischen Strand. Seitdem wird regelmäßig von untergehenden Booten und ertrunkenen Geflüchteten im Mittelmeer berichtet. So auch vergangene Woche: Bei einem Bootsunglück vor der italienischen Küste kamen mindestens 58 Geflüchtete ums Leben, darunter ein Säugling und ein kleines Zwillingspaar. Seit 2014 sind, die neuen Zahlen mit eingerechnet, mindestens 25 500 Menschen im Mittelmeer auf der Flucht ertrunken – Nachrichten und Zahlen, die im Vergleich zum Foto von Alan Kurdi niemanden mehr schockieren, sondern hingenommen werden.  

“Sonst ist es keine Frage danach, ob Menschen im Mittelmeer ertrinken, sondern wie viele.“ 

Die wenigen Möglichkeiten zu legalen Einreisen in die EU und andauernde (Bürger-)Kriege lassen vielen Geflüchteten keine andere Wahl als die gefährlichen und auch teuren Schlepperrouten zu wählen. Denn auch sie wissen, dass diese Fahrt gefährlich für das eigene Leben und das der Kinder ist. Asyl ist ein Menschenrecht, das man in der EU durch komplizierte Regelungen auszusetzen versucht. Legale Fluchtrouten müssen möglich sein! Die EU muss mit ihren vielen Mitgliedsstaaten und Geldern bessere, menschlichere Lösungen finden.  Denn sonst ist es keine Frage danach, ob Menschen im Mittelmeer ertrinken, sondern wie viele. 

“Frontex – nichts sehen, nichts hören.” 

Frontex (Akronym für frontières extérieures – Außengrenzen) ist eine Agentur der Europäischen Union, die beim Schutz der Außengrenzen des “EU-Raums des freien Verkehrs” unterstützen soll. Die Behörde stand in den letzten Jahren häufig in der Kritik. Frontex sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, an illegalen Pushbacks, also Aussetzungen von Geflüchteten auf dem offenen Meer oder gewaltsamen Zurückdrängungen, beteiligt gewesen zu sein. Eine Behörde wie Frontex sollte es nicht geben. Ihre Philosophie von “nichts sehen, nichts hören”, die Menschenrechte verletzt, muss aufhören und lückenlos aufgeklärt werden.  

“Seenotrettung wird kriminalisiert.” 

Für die Geflüchteten gab es viel zivile Solidarität aus einigen EU-Ländern in Form von verschiedenen Flüchtlingshilfen an den EU-Außengrenzen. Eine davon ist die zivile Seenotrettung, bei der ehrenamtliche Helfer:innen versuchen, Schiffbrüchige zu retten und Vermisste zu suchen. Diese wird vermehrt kriminalisiert: Die Helfer:innen stehen wegen des Vorwurfs der Schlepperei, der Unterstützung dieser oder der Hilfe zur illegalen Einreise vor Gericht. Bei einer Verurteilung drohen teils lange Haftstrafen. Es darf kein Verbrechen sein, Menschen vor dem Ertrinken zu retten! Die EU darf nicht dabei zusehen, wie ihre Mitgliedsstaaten mit Prozessen Helfer:innen einschüchtern, denn ohne Seenotrettung ertrinken nur noch mehr Geflüchtete. 

“Die Festung Europa tötet.” 

Andauernde Kriege und kaum vorhandene legale Einreisemöglichkeiten schaffen einen Markt für illegale Schlepperbanden und gefährliche Fluchtrouten. Die Politik eines abgeschotteten Europas mit Frontex, illegalen Pushbacks und der Kriminalisierung der Seenotrettung potenziert die sowieso schon schwierige Lage.  Das Ergebnis politischer Entscheidungen wird von der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, als Tragödie bezeichnet. Tragödie, das ist per Definition ,,ein großes Unglück, das jemandem widerfährt”. Zumindest teilweise kann man ihr zustimmen: Für die Verstorbenen und ihre Angehörigen ist es eine Tragödie. Aber von einer Politikerin, die ein Europa von geschlossenen Grenzen und illegalen Pushbacks mitträgt, wirkt das zynisch. Denn die Festung Europa lässt Menschen gnadenlos an ihren Außengrenzen sterben – sie tötet.  

Ein Kommentar von Aylin Sancak.