TANZPLATTFORM 2020

Das war die Tanzplattform 2020!

/ / Foto: Andreas Etter

Vom 04. – 08. März war die Tanzplattform 2020 in München zu Gast. Das alle zwei Jahre stattfindende Tanzfestival zeigt einen Querschnitt aus den aktuellen deutschen Produktionen im zeitgenössischen Tanz. Wir schauen zurück und ziehen Bilanz. Was hat begeistert, was enttäuscht?

tanzmainz Sharon Eyal: Soul Chain

Am Ende gibt es Jubel und Standing Ovations für “Soul Chain”, eine Choreografie, die an Kraft, Präzision, Energie und Synchronität kaum zu überbieten ist. Die Israelin Sharon Eyal lässt ihre 16 Tänzer*innen zunächst aus dem Nebel in Zweierpaaren steif und aufrecht in kleinen Schritten über die Bühne stöckeln. Die Körper sind in Ballettmanier angespannt, die Haltung stolz. Dann kommen immer mehr Tänzer*innen auf die Bühne, bilden eine Einheit, einen großen Körper, der sich absolut synchron bewegt. Doch es gibt immer wieder ein paar Ausreißer, ein oder zwei, die eigene Bewegungen machen, während der Rest in exakter Ausrichtung weitermarschiert. Musikalisch getragen wird der Abend von Techno-Beats des Komponisten Ori Lichtik. Sie treiben die Aufführung an und übertragen Energie und Geschwindigkeit in die Körper, die immer in Bewegung sind. Bei “Soul Chain” gibt es keine Pause, keinen Moment des Innehaltens. Unermüdlich treibt man sich hier zu körperlichen Höchstleistungen an. Zurecht hat Sharon Eyal für diese kraftvolle und intensive Choreografie 2018 den Faust-Preis gewonnen. jr

Kraftvoll und präzise: Soul Chain. © Andreas Etter

Isabelle Schad: Reflection

Eine Drehscheibe auf der Bühne, 13 Tänzer*innen gehen wie auf einem Laufband, mal entgegengesetzt, mal nebeneinander her –
eine Spannung baut sich auf als die ersten Darsteller*innen beginnen, bogenförmig umher zu springen. Die Handlung spitzt sich zu, Körper werden schneller, nackter, dynamischer, synchroner. Zu industriellen Klängen “verketten” sich die Körper der in beige, schwarz oder grau gekleideten Tänzer*innen. Mit Händen und Armen formen sie durch verschlungene Griffe unterschiedliche Bilder. Zwischenzeitlich läuft leise eine klassische Symphonie im Hintergrund und sorgt zwischen Trubel und Schnelligkeit für ausgleichende Ruhe in der Kammer eins. Bleibt auch der “Sinn” der Performance-artigen Tanzaufführung irgendwie aus, so überlässt Preisträgerin Isabelle Schad die Interpretation des Stückes wohl eher dem Publikum selbst. Zwischenzeitlich etwas langatmig oder aufwühlend endet die Vorstellung, zur rotierenden Bühne passend, in gleicher Szene wie anfangs und schließt damit den Kreis. Die industriellen Sounds verklingen, die Symphonie läuft weiter, wird lauter, der Vorhang fällt. In kompletter Ruhe zu epischer Musik kommt das Publikum zu sich zurück. sr

Menschenketten in “Reflection” © Dieter Hartwig

Cocoon Dance: VIS MOTRIX

In VIS MOTRIX, lateinisch für „die bewegende Kraft“, schafft es das Tanzensemble Cocoon Dance durch den Einsatz von abgehackten, mechanisch präzisen Bewegungen und hypnotisierender Musik, ein Stück bei dem die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschmelzen, auf die Bühne zu bringen. Angetrieben durch die „bewegende Kraft“ bringen sich die Tänzerinnen nach und nach selbst das Tanzen bei. Dabei kommt es zu einem konsequenten Spannungsaufbau, der es schafft, die Zuschauerinnen, auch ohne großes Finale in seinen Bann zu ziehen. tf

Spinnenartige Wesen in “Vis Motrix” © Klaus Fröhlich

Saša Asentić: Dis_Sylphide

Die Diskussionen nach dieser Performance sind groß. War das jetzt absolut geschmacklos oder doch clever? In einer Gruppe aus Menschen mit und ohne Behinderung wird hier deutsche Tanzgeschichte verhandelt. Als Referenzen dienen Mary Wigmans Hexentanz, Kontakthof von Pina Bausch und SelfUnfinished von Xavier Le Roy. Ausschnitte aus diesen Stücken werden originalgetreu nachgetanzt und dann in der gesamten Gruppe vor dem Publikum besprochen. Die Performance hat Workshop-Charakter, es wird viel geredet, Szenen werden auf der Bühne entwickelt oder ausprobiert. Dabei wird auch immer wieder (un)freiwillig das Publikum mit einbezogen. Eine Szene wirkt besonders beklemmend: eine Tänzerin mit Down-Syndrom stellt eine Szene von Pina Bausch nach, in der eine Frau von vielen Männern aggressiv bedrängt wird. Sie zupfen an ihren Haaren, ziehen an ihren Armen, klopfen auf ihren Bauch. Bei der nachfolgenden Besprechung erzählt die Tänzerin, wie unwohl sie sich dabei gefühlt hat. Wird hier auf gewissenlose Weise Diskriminierung anhand eines Menschen mit Behinderung reproduziert oder wird eben jener Zuschauerblick entlarvt, der einen eingeschränkten Körper anders wahrnimmt, als einen nicht eingeschränkten? Dis_Sylphide spielt mit dieser Wahrnehmung und übt Kritik, welche sich aber teilweise erst später in der Diskussion offenbart. Während der etwas langatmigen Performance ist nicht immer sofort alles klar. jr

Beklemmende Gefühle bei “Dis_Sylphide” © Anja Beutler

Joana Tischkau: Playblack

Wer die Mini Playback Show (1990-1998) aus dem deutschen Fernsehen kennt, dem wird das Konzept der Performance Playblack sehr bekannt vorkommen: Die drei Performerinnen Annedore Antrie, Clara Reiner und Joana Tischkau spielen Stars und Moderator*innen, dazu laufen Playback Musik und Interviews. Playblack zitiert die Popkultur der 70er bis 90er Jahre und zeigt auf witzige Weise den selbstverständlichen Rassismus und Sexismus der Medienwelt auf. Wenn sich durch die Interviewausschnitte zeigt, wie die Darstellung von Künstler*innen of Color in der Öffentlichkeit durch die Erwartung der weißen Mehrheit bestimmt ist, wird aus dem poppigen Humor gerne auch einmal bitterer Sarkasmus. Trotzdem macht Playblack mit seinen bunten Kostümen und dem Popsong Lip Syncs vor allem Spaß. tg

Rassismuskritik in “Playblack” © Michael Shaw

Simone Aughterlony, Petra Hrašćanec, Saša Božić: Compass

Angelegt ist Compass als eine performative Reise zum Selbst und “Parabel auf das neue Europa”, tatsächlich aber ist das Stück ein einziges, langes Irritationsmoment. Weder ein narrativer, noch ein thematischer roter Faden sind zu erkennen, dem Publikum wird bewusst jeglicher Halt entzogen: In durchnässten Klamotten zucken und kriechen die beiden Darsteller*innen über die Bühne, ignorieren einander und beziehen sich dann doch wieder in ihre sehr Ich-fokussierten Bewegungen ein, wenn auch nur, um sich gegenseitig das Wasser aus dem T-Shirt zu saugen oder beim Umgang mit Seil und Spritze zu helfen. Spätestens, als nackt zu Party-Beats getanzt, Wein verschüttet und Blut durch die Gegend gespritzt wird, ist der Höhepunkt an Anstrengung für das Publikum erreicht. Alle Klischees einer Kunstperformance scheinen vereint: so gewollt befremdlich, dass sie nur abschrecken kann. Schade. nc

Gewollt verstörend: “Compass” © Renato Mangolin

Jule Flierl: Störlaut

Mit drei übereinander gebundenen Schuhen stapft Jule Flierl durch den Zuschauerraum. Um das Publikum herum stehen verschiedene Plattformen. Auf eine davon stellt sich Flierl und beginnt, Laute zu singen. Mal klar und im Vibrato, beinahe opernhaft, dann aber beugt sie den Klang wie bei einem kaputten Tonband. Ihr Gesicht verzieht sich dabei, als kaute sie Kaugummi, sie fletscht die Zähne, lässt ihr Gesicht verfließen. „Coloratura“ heißt dieser Ton-Tanz und ist nur einer von sieben, die Flierl im Laufe des Abends aufführen wird. Es ist die Stimme, die tanzt in Jule Flierls Performance Störlaut. Ihre körperlichen Bewegungen unterstützen dabei nur die wilde Ausdruckskraft der Klänge. Flierl interpretiert die Ton-Tänze Valeska Gerts (1892-1978) neu. Diese Tänze aus Geräuschen und Lauten wirken heute wohl noch genauso absurd und grotesk wie zu der Zeit ihrer ersten Aufführungen in den 1920er Jahren. tg

Groteske Töne in “Störlaut” © Jule Flierl

Gintersdorfer/Klaßen: Kabuki Noir

Nur weil man laut sagt, dass man gerade kulturelle Aneignung betreibt, umgeht man sie dabei noch nicht. In “Kabuki Noir” wird auf problematische Weise die traditionelle japanische Theater-Tanz-Musikform des Kabuki mit dem ivorischen Coupé Décalé in Beziehung gesetzt. Die Aneignung soll laut Beschreibung “von unten” geschehen, doch tatsächlich erfolgt sie in fragwürdigen Slapstick-Einlagen und dann doch eher von oben. Denn die weißen Darsteller*innen haben deutlich mehr Rede- und Performanceanteil als die Tänzer*innen of color, die zudem noch meistens übersetzt werden. Ein bedenklicher Abend. jr

Fragwürdige Aneignung in “Kabuki Noir” © Knut Klaßen