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Buchkritik

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich

/ / Ronen Steinke, Journalist und Autor. Hier in der Eingangshalle des Landgerichts Berlin in Moabit / Bild: © Amin Akhtar

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich”. So steht es in Artikel 3, Absatz 1, Grundgesetz geschrieben. Laut Jurist Ronen Steinke hält das deutsche Justizsystem diesen Grundsatz jedoch nicht ein. In seinem Sachbuch Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich beschäftigt sich Steinke mit dieser systematischen Ungerechtigkeit im Strafsystem.

Ronen Steinke beginnt sein Sachbuch mit zwei kurzen Erzählungen. Einmal von dem VW Chef Herbert Diess, der für seine Verantwortung im Betrugsskandal zu 4,5 Millionen Euro Strafe verurteilt wird. Die darf er jedoch aus Unternehmenskasse nehmen und von der Steuer absetzen. In der zweiten Erzählung geht es um eine ältere Frau, Irene B., die knapp 1000 Euro Rente im Monat zur Verfügung hat. Sie stiehlt Kerzen im Wert von ca. 5 Euro und wird deshalb zu einer Strafe von 800 Euro verurteilt. Das ist eine wesentlich geringere Summe als die des VW Chefs. Betrachtet man das aber im Verhältnis zum bestehenden Vermögen, sieht die Sache ganz anders aus. 

Mit solchen konkreten Fällen und einzelnen Geschichten arbeitet der Journalist und Jurist Steinke das deutsche Strafsystem durch. Er beschreibt komplexe juristische Sachverhalte und ihre Konsequenzen plakativ, aber deshalb auch für Laien verständlich und greifbar. Mit diesen einzelnen Erzählungen geht der Autor aber auch grundsätzlichen Fragen von der Fähigkeit der Justiz gerecht zu sein nach. Und egal welchen Weg Steinke dabei einschlägt, er kommt immer zurück zu einem bestimmenden Faktor: Geld-und der davon abhängige soziale Status.

Eine neue Klassenjustiz?

Zwei Jahre hat Steinke in Gerichtssälen recherchiert und beobachtet. Er hat mit Anwält:innen und Richter:innen gesprochen, Strafprozesse und Gesetzestexte ausgewertet. Seine zahlreichen Quellen sind am Ende des Buches aufgelistet. Für Steinke weisen sie darauf hin, dass sich in Deutschland eine neue Klassenjustiz herausgebildet hat. Eine, die die Reichen begünstigt und die Armen zurücklässt. Die Ungerechtigkeiten, die er dabei schildert sind erschreckend, die Probleme im Strafsystem eklatant.

Mancher mag das achselzuckend hinnehmen: Es gibt halt Oben und Unten. Wer Geld hat, der hat es überall leichter. Wer arm ist, sollte sich halt besser zweimal überlegen, ob er sich dem Verdacht einer Straftat aussetzt. Aber egal, wie man zur Vermögensverteilung in Deutschland steht: Es gibt bestimmte Orte, an denen das keinen Unterschied machen darf. Orte, an denen der Staat alle Menschen gleich behandeln muss, egal ob arm oder reich. Die Schule ist so ein Ort. Ganz sicher auch der Gerichtssaal.

Diese Ungleichbehandlung beginnt schon vor der Verhandlung, die die meisten Menschen ohne Verteidiger:in bestreiten müssen- denn in Deutschland sind Pflichtverteidiger:innen keine Selbstverständlichkeit. Für eine angemessene Verteidigung ist meistens ein gefüllter Geldbeutel nötig.

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Hinter den Gittern Deutschlands

Im Rahmen der Frage nach einer Klassenjustiz in Deutschland handelt Steinke verschiedene Aspekte des Justizsystems ab: Es geht um Anwält:innen, Urteile, Geldstrafen, Haft, Wirtschafts- und Elendskriminalität.  Besonders eindrücklich ist der Blick den der Autor in die deutschen Gefängnisse wirft. Einer der häufigsten Haftgründe in Deutschland ist laut Steinke aktuell die Zahlungsunfähigkeit bei Geldstrafen – wenn eine Gefängnisstrafe also eigentlich als zu hart eingestuft wurde. Steinke berichtet in seinem Buch von Gefängnisbesuchen und Gesprächen mit Insass:innen. Manche von ihnen sind glücklicher hinter Gittern als davor, denn im Gefängnis hätten sie wenigstens Essen und ein Dach über dem Kopf.

Es ist ein bemerkenswerter Moment, den das deutsche Strafsystem da erreicht hat. Ein Kipppunkt. Und wenn da irgendetwas dran sein sollte an dem viel zitierten Gedanken, der wahlweise George Orwell, Winston Churchill und Fjodor Dostojewskij zugeschrieben wird – „ Den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse“-, dann wäre jetzt der Moment erreicht, einmal innezuhalten.

Ronen Steinke ist in seiner Abrechnung mit der deutschen Justiz schonungslos. Aber er lässt seine Leser:innen nicht zurück mit diesen doch trostlosen Erkenntnissen. Am Ende macht er auch Vorschläge, wie sich das System wandeln und dadurch die Gerechtigkeit auch für die Vulnerabelsten der Gesellschaft gewährleisten könnte. Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich ist ein wertvoller Denkanstoß für eine dringend nötige Debatte über das Rechtssystem.

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich von Ronen Steinke ist für 20 € als Hardcover im Handel erhältlich.