Kommentar

Simone Biles, das Vorbild

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Tokio 2021, Olympische Spiele, die Welt-Öffentlichkeit blickt nach Japan und auf die besten Sportler:innen dieses Planeten. Turnstar Simone Biles, als Heldin geschaffen, bricht nach dem ersten Gerät den Wettkampf ab. Der Grund: Mentale Probleme. Im Internet findet man kurz danach von Solidaritätsbekundungen bis hin zu rassistischen Beleidigungen alles über sie. Dabei gehört Simone Biles für den Abbruch des Wettkampfs gefeiert. Ein Kommentar von Markus Lenhardt.

Vor den Olympischen Spielen in Tokio hat Simone Biles von Twitter noch ihr eigenes Emoji bekommen: Eine turnende Ziege. Im ersten Moment komisch. Der Hintergrund für diese Darstellung ist das englische Wort Ziege: „Goat“. Dieses Wort steht als Abkürzung auch für die Bezeichnung „Greatest of all Time“. Simone Biles dominiert die Turnwelt seit Jahren. Das schürt Erwartungen. Doch genau jetzt bei den Olympischen Spiele hat sie das Finale im Teamwettkampf abgebrochen. Wegen mentaler Probleme hat sie ihre Leistung nicht erbringen können. Mit diesem dauerhaften Druck kennen sich auch andere Sportler:innen aus, wie zum Beispiel Schwimmstar Michael Phelps.

“I felt like I was carrying, like Simone said, the weight of the world on my shoulders. It’s a tough situation.”

Michael Phelps auf NBC

Simone Biles beweist mit ihrer Entscheidung Größe. Sie tritt zurück, damit ihr Team eine Medaille gewinnen kann. Neben Phelps gibt es auch sonst viel Zuspruch für Simone Biles. Einige legen ihr Handeln dagegen als Schwäche aus. In einem von Druck dominierten und auf Leistung ausgelegten Sport zeigt das Erkennen psychischer Grenzen allerdings vielmehr die wahre Größe des Menschen Simone Biles.

Biles did not choke

Das Wort Choke wird in der amerikanischen Sportberichterstattung häufig verwendet. Es bedeutet so etwas, wie versagen oder aufgeben. Vor allem erfolgreiche Sportler:innen haben oft mit diesem Vorwurf zu kämpfen, wenn sie in einem wichtigen Wettkampf unter ihren Möglichkeiten bleiben. Über Simone Biles steht dieser Vorwurf, mittlerweile auf allen sozialen Medien nachzulesen. Die Zuschauer:innen machen sich teilweise über sie lustig.

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Auch Zeitungen, wie „The Sunday Morning Herald“ titeln „[…] Simone Biles shows it‘s OK to choke“. Menschen, die so etwas schreiben, fehlt völlig das Verständnis dafür, dass unter mentalen Problemen auch die körperliche Leistung leidet. Mittlerweile arbeitet die überwiegende Mehrheit der professionellen Sportmannschaften mit Sportpsycholog:innen zusammen. Der Begriff „choke“ alleine untergräbt die Auswirkungen. Psychologische Auswirkungen haben nicht annähernd den Status, den körperliche Verletzungen haben. Jede:r Profilsportler:in hat während der Karriere damit zu kämpfen. Ein lapidares Abtun ihrer Entscheidung als „choke´“ führt die gesamten sportpsychologischen Erkenntnisse ab absurdum.

Simone Biles bei den olympischen Sommerspielen 2016/
Bild: shutterstock / Salty View

Jetzt ist Simone Biles die Größte aller Zeiten

Psychologische Probleme haben nicht nur Personen des öffentlichen Lebens, wie Simone Biles oder Michael Phelps. Zahlen des RKI aus dem Jahr 2010 zeigen, dass mehr als jede vierte Person in Deutschland depressive Symptome hat. In Coronazeiten hat sich die Situation noch mal verschärft. Trotzdem ist es in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabu, darüber zu sprechen. Das zeigt sich nicht nur in den Sozialstrukturen. Denn wer schon mal in Therapie war, hat es deutlich schwerer, eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder eine private Krankenversicherung abzuschließen. Ein offener Umgang mit der Thematik, wie es auch Profisportler:innen wie Simone Biles vorleben können, hilft der Gesellschaft. Es kann nicht sein, dass Menschen, die schon so eine soziale Hürde überwinden und sich professionelle Hilfe suchen, dafür bestraft werden.

Simone Biles hat diese Stärke bewiesen. Sie hat diese soziale Hürde überwunden und spricht ihre Probleme öffentlich an. Das zeugt von gelungener Reflexion über sich und die Gesellschaft und darf keinesfalls als Beispiel für Versagen abgetan werden.

Simone Biles Vermächtnis

Sportlich ist Simone Biles über jeden Zweifel erhaben. Sie hat mit nur 24 Jahren schon alles erreicht, was es im Turnsport zu erreichen gibt. Ihren Rückzug vom Wettkampf als „choke“ zu bezeichnen, ist vollkommen unverhältnismäßig und lächerlich. Biles tut genau das Gegenteil. Sie erreicht durch ihren Abgang die Weltöffentlichkeit und macht auf mentale Krankheiten aufmerksam. Es zeugt auch im Leistungssport von Stärke, sich selbst als beste Turnerin der Welt einzugestehen, dass andere in diesem Moment besser sind.

Auch in Deutschland ist der Umgang mit Menschen, die solch eine Stärke aufgebracht haben und sich Hilfen gesucht habe, verbesserungswürdig. Vor allem wegen Menschen wie Simone Biles bekommen Menschen mit psychischen Problemen mehr Aufmerksamkeit. Auch wenn es nur für kleine Veränderungen sorgt, ist es ein Schritt in die richtige Richtung. Tabuisierung von Problemen, die 26 Prozent der Bevölkerung betreffen, kann nicht die Lösung sein. Wenn Simone Biles Aussagen es schaffen, dass wir eine öffentliche Debatte über den Umgang mit der mentalen Gesundheit führen, ist das mehr wert als jede Goldmedaille.