Deutsche Medien unter der Lupe

Thomas, der deutsche Durchschnittsjournalist

/ / Bild: Powtoon

„Mittelschichts-Sichtweisen, Mittelschichts-Biografien, Mittelschichts-Lebensgefühle“ – das attestierte Bernd Ulrich, Politikchef der ZEIT, im Jahr 2010 deutschen Redaktionen. Diese seien so homogen wie langweilig. Doch eine plurale Gesellschaft muss sich im Journalismus widerspiegeln. Wer ist der typische deutsche Journalist? Eine Faktensammlung mithilfe der Fiktion.

Von Tom Kroll, Paula Lochte und Karin Priehler

Wenn aus Datensätzen Geschichten werden: Studierende im Master Journalismus haben kommunikationswissenschaftliche Forschung der LMU München datenjournalistisch aufbereitet.

Es ist halb sieben. Wie in Millionen deutschen Haushalten klingelt auch bei den Müllers die Wecker-App des Smartphones. Jetzt bloß keine Zeit verlieren. Jede Abweichung von der eingetakteten Routine führt unweigerlich zu einer verspäteten Ankunft der Kinder in der Schule. Diesmal klappt alles. Die Kinder sitzen auf dem Fahrrad und Thomas in seinem grauen Golf.

Thomas existiert in Wahrheit nicht. Er ist der aus Daten geborene Protagonist dieser Geschichte: ein deutscher Durchschnittsjournalist. Thomas ist 45,58 Jahre alt. 9 Stunden verbringt er in etwa jeden Tag auf der Arbeit. Sein Weg dahin führt ihn von Zuhause, einem rot geklinkerten Neubaugebiet mit Spielplatz für die Kleinen, durch die Siedlung Rote Sonne. Dort sind die Häuser höher und die Mieten niedriger. Nette Menschen nennen solche Quartiere „bunt“. Weniger nette Menschen nennen solche Viertel „assi“ und die Menschen, die dort wohnen „Assis“. Thomas würde die Menschen aus der Roten Sonne nicht verspotten. Er gehört dem linksliberalen Milieu an.

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Deutsche Journalisten und Journalistinnen neigen zu eher linksliberalen Parteien. Und zwar nicht nur jene aus dem Politikressort:  Auf einer Skala von „0“ links bis „10“ rechts liegen sie im Schnitt bei 3,96. Zu diesem Ergebnis kommt die Worlds of Journalism Study, für die 2014-2015 in Deutschland 775 Medienschaffende befragt wurden.

Thomas betritt die Zeitungsredaktion, er arbeitet „im Lokalen“. Es wird ein stressiger Tag. Der Plan: Um 11:30 Uhr den Bürgermeister interviewen, um 13:30 Uhr mit einem Fotografen die Grünalgen im Freibad dokumentieren und hoffentlich mit empörten und besorgten Badegästen sprechen. Eine Stunde später ist Thomas mit der Heimleitung des Marienstifts verabredet. Redaktionsschluss ist um 19:00.

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Lokale und regionale Themen dominieren. Traditionelle Rollenaufteilung? Während sich im „Sport“-Ressort wenige Frauen finden, sind sie im Bereich „Service und Lifestyle“ stark vertreten. Freie arbeiten besonders häufig im Ressort „Politik“.

Nach und nach füllt sich das Großraumbüro mit Katrin, Paul, Konstantin, Heiner, Kai, Petra und noch einem Thomas. In der morgentlichen Redaktionskonferenz besprechen die Journalisten die „Großlage“ von letzter Woche: In der Roten Sonne ist ein Rentner in eine Gruppe von Personen gerast, er hatte Gas mit Bremse verwechselt. Robert Bröser, der Lokalchef, fragt: „Hat eigentlich irgendwer einen Kontakt ins Viertel, unser Chef, der Künzer, will irgendwas zum Sicherheitsgefühl der Fußgänger im Blatt haben und zwar bis Ende dieser Woche!“ Einen Kontakt ins „Viertel“ hat niemand.

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In deutschen Redaktionen sitzen überwiegend Menschen aus höheren sozialen Schichten mit „Migrationsdefizit“. Auch die Studie „Migranten als Journalisten?“ aus dem Jahr 2016 schätzt den Anteil migrantischer Medienschaffender auf 1-5 %. Bildlich gesprochen: Jeder fünfte Einwohner in Deutschland hat einen Migrationshintergrund – in den Redaktionen nur jeder Fünfzigste.

Martin Schneiderhahn, Stellvertreter des Lokalchefs, schlägt vor: „Warum interviewen wir nicht einen Verkehrsexperten und einen Psychologen von der Führerscheinstelle und Petra ruft Telefonnummern mit der Vorwahl der Roten Sonne an, dann müssen wir nicht extra da rausfahren.“

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Heute gibt es mit einem Anteil von gut 40 % mehr Frauen denn je im Journalismus – allerdings weiterhin kaum in leitenden Positionen. Die Führungsetagen sind zu 70 % von Männern besetzt.

Thomas schaut auf die Uhr. In einer Viertelstunde muss er beim Bürgermeister sein. Er steigt aufs Redaktionsfahrrad. „Verdammt, wo ist mein Block?”– Thomas hat die vorbereiteten Fragen auf seinem Schreibtisch liegen lassen. Weiterfahren oder umkehren? „Ach, weiterfahren! Ich habe ja nicht Abitur, sechs Jahre Studium und ein Volontariat hinter mir, um jetzt Angst vor dem Bürgermeister zu haben“, denkt er und tritt noch fester in die Pedale.

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Journalismus wird in Deutschland vor allem von Akademikern und Akademikerinnen betrieben: Insgesamt 75,5 % verfügen über einen Studienabschluss – im Vergleich zu 2005 eine Zunahme um 6,7 Prozentpunkte.

Das Interview läuft gut. Schon halb auf dem Fahrradsattel sitzend lädt Thomas ein Foto für den Instagram-Account der Redaktion hoch. Darauf abgebildet ist der Bürgermeister. Wuchtiger Eichenschreibtisch, nachdenkliche Pose. Unter dem Post die, zugegeben, etwas schiefe Metapher des Verwaltungschefs: „Nur meine Partei kann die Kuh noch vom dünnen Pflegenotstands-Eis holen.“

Für seinen Artikel zum Pflegenotstand will Thomas noch mit der Heimleiterin des Marienstifts sprechen. Davor der dazwischen gequälte Termin im Freibad. „Früher hatte ich mehr Zeit für die Beiträge“, denkt sich Thomas. Resigniert ist er trotz allem nicht. Er möchte die Menschen seiner Stadt gut informieren. Qualitätsjournalismus heißt für ihn, unverfälscht und unparteiisch zu berichten, zu analysieren und einzuordnen.

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Deutsche Journalisten und Journalistinnen sehen sich als möglichst neutrale Vermittler. Dieses klassische Rollenbild des Informationsjournalismus hat in den vergangenen 20 Jahren noch an Bedeutung gewonnen.

Es ist 17:45 Uhr. Der Artikel über den Pflegenotstand hat gerade die letzte Redigierschleife durchlaufen. Alles passt. Im Marienstift konnte Thomas sogar noch mit einer Bewohnerin sprechen. Er ist zufrieden. Unter seiner Tastatur klemmt ein Brief. Es ist die Gehaltsabrechnung.  3151 Euro netto stehen auf dem Zettel.

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Journalistinnen verdienen im Schnitt schlechter als Journalisten. Selbst wenn man die unterschiedlichen Erwerbsbiografien und Tätigkeitsfelder bedenkt – die Geschlechter trennt eine Lohnlücke von 5,6 %.

Es ist kurz nach sechs, die ersten Redakteure verlassen das Büro. Um halb sieben sitzt nur noch Thomas an seinem Schreibtisch. Im Hintergrund dudelt leise das Radio. Frank Sinatra singt  „I did it my way“. Heute wird Thomas als Letzter die Redaktion verlassen und zu seiner Familie in die rot geklinkerte Neubausiedlung heimkehren. Um Viertel vor sieben beendet er endlich den Artikel zum Grünalgen-Schlamassel im Freibad.

Und morgen? – Fragen an einen echten Thomas und Experten

Thomas heißt der durchschnittliche deutsche Journalist von heute. Sitzen morgen häufiger Tarek, Kevin und Lena in Deutschlands Redaktionen? Antworten hat Thomas Hanitzsch, Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München und Mitautor der hier zitierten Worlds of Journalism Study.

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Der deutsche Durchschnittsjournalist der Zukunft – Interview mit Prof. Dr. Thomas Hanitzsch