Ein corona-freier Tagtraum

Wieder leben ohne Abstand

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Isoliert mit der Familie, dem Partner, oder alleine: So sieht die aktuelle Wohnsituation bis auf Weiteres aus. Da war selbst der manchmal anstrengende oder langweilige Alltag schöner – ohne Beschränkungen und in Menschenmengen. Wie würde der erste Tag ohne Corona wohl aussehen? Eine Erzählung von Larissa Dillmann.

Es ist Montag, drei Tage ist es her, dass die Ausgangsbeschränkungen festgelegt wurden und seit 10 Tagen habe ich mich freiwillig isoliert – aus solidarischen Gründen. Ich wohne alleine. Bis auf die Frau an der Kasse und den Herrn, der mir die letzte Packung Klopapier vor der Nase weggeschnappt hat, habe ich schon lange keine Gesichter mehr gesehen. Auf meinem PC unterhalte ich mich mittlerweile viel mit Freunden, aber so richtig das Gleiche ist das auch nicht. Ach, ich freue mich so sehr auf die Zeit, in der das alles in der Vergangenheit liegt und ich wieder ganz viele Menschen treffen kann – ohne zwei Meter Sicherheitsabstand! Wie der erste Tag nach dem ganzen Corona-Wahnsinn wohl aussehen wird? Ich schweife ab und beginne genauer darüber nachzudenken…

Ein Traum vom Alltag

Nie hätte ich gedacht, dass ich mich mal so freuen würde wieder in die Arbeit zu gehen. Sogar auf dem Weg dorthin sehe ich an einem Morgen vermutlich mehr Menschen als innerhalb der letzten Woche. Dicht aneinandergedrückt wie Sardinen, gerade so viel Platz zum Atmen, dass ich während der kurzen Fahrt nicht die Luft anhalten muss. Und wenn die U-Bahn ruckartig zum Stehen kommt, besteht nicht mal Gefahr, dass ich zu Boden falle – dank hundert menschlicher Airbags. Einfach toll!

GIF: Larissa Dillmann

Fast in der Arbeit angekommen geht’s dann in den Aufzug, auch hier wird natürlich die maximale Personenzahl ausgenutzt. Also stehe ich mit acht Menschen in einem Aufzug in den theoretisch nur vier passen. Wieder auf eigentlich zu engem Raum und mit Menschen, die ich zwar vom Sehen her kenne, aber nicht gut genug, um ein Gespräch zu führen. Ich nicke also lächelnd und verlegen mit dem Kopf, nur ein wenig, um nicht mit meinem Gegenüber zusammenzustoßen. Normalerweise warte ich nur darauf schnell in meinem Stockwerk anzukommen, aber heute genieße ich die menschliche Gesellschaft, trotz des unangenehmen, eigenartigen Anschweigens. Dann erst einmal alle auffindbaren Kollegen innig umarmen – ob sie wollen oder nicht, da müssen sie jetzt durch. 

Bild: Larissa Dillmann

Feierabendbier im Freien

Nach Feierabend entscheide ich mich den warmen Sommertag noch mit einem alkoholischen Getränk ausklingen zu lassen – mit echten Menschen, statt über die Webcam in meinem PC – ENDLICH! Ich nehme einen Umweg über den Marienplatz in Kauf. Hier bin ich normalerweise nie, aber ich sehne mich danach, mich durch das dichte Gedränge der Touristen zu manövrieren – einfach, weil ich kann. An der Isar angekommen beschließe ich meinen Freunden und mir am Kiosk ein Bier zu kaufen. Nach einer Stunde in der Schlange bin ich an der Reihe. Wie lange ich schon nicht mehr in einer Schlange gewartet habe. Jetzt weiß ich darüber Bescheid, wie die vor und hinter mir wartenden Menschen die Quarantäne erlebt haben, und dass die Frau vor mir nun wohl nicht mehr so verliebt ist, wie noch vor ein paar Wochen. Mit Getränken bewaffnet suche ich meine Freunde auf. Sie sitzen, umgeben von hunderten Münchnern, an der Isar und ich quetsche mich noch in ein mehr oder weniger freies Plätzchen. Von links und rechts hören wir Gesprächsfetzen, werden beschallt von fünf verschiedenen, lauten, basslastigen Boxen und eingequalmt von den Rauchern nebenan. Wir schreien uns eine Zeit lang an, weil man sich sonst nicht versteht, geben es aber letztendlich auf und saugen die laut tobende, zu nah neben uns sitzende Menschenmenge ein.

Tanzen, Hitze, Menschenmenge

Weil wir schon so lange nicht mehr feiern waren, einigen wir uns darauf den nächsten Club aufzusuchen. Ich bin eindeutig zu warm angezogen. Bei gefühlt 100 Grad Celsius tanzen wir. Die Menge besteht kaum noch aus einzeln tanzenden Menschen – eher aus einer großen Masse, die hin und her schaukelt. Mir ist so warm, dass ich von Kopf bis Fuß nassgeschwitzt bin. Jeder, der sich an einem vorbeidrängt auch – was zu einem großen Schweißaustausch führt. Selbst an den Wänden sieht man wie das kondensierte Wasser wie in einer Sauna die Wand hinabläuft. Aber es kommt mein Lieblingslied und ich tanze, jetzt noch näher an meine Freunde gepresst und gröle laut mit. Sechs Stunden später quäle ich mich aus dem Bett. Mit rasenden Kopfschmerzen und Angst mich jederzeit übergeben zu müssen begebe ich mich an den Frühstückstisch. Die ganze Familie ist da, mitsamt meiner Großeltern, die innerhalb der ersten fünf Minuten schon dreimal gefragt haben, ob ich denn mittlerweile einen jungen Mann kennengelernt habe und ob ich endlich mein eigenes Geld verdiene.

Alles nur ein Traum

Plötzlich reißt mich laute Musik aus meinen Gedanken und auf einen Schlag bin ich zurück in der Realität: der Abspann der Sendung, die ich schon seit heute morgen schaue, zerrt mich aus meinem Tagtraum. Es ist drei Uhr am Nachmittag, ich liege alleine auf der Couch und Netflix fragt mich, ob ich weiter schauen möchte.

Bild: Larissa Dillmann