M94.5 Filmkritik

Der Trafikant

/ / Quelle: Tobis Film

Coming of Age während der Annektierung Österreichs 

Vom Attersee nach Wien 

Ein „Trafikant“ – was mag das wohl sein? Jemand, der im Straßenverkehr angestellt ist? Weit gefehlt! Im österreichischen Dialekt wird so der Inhaber einer Trafik, einer Verkaufsstelle für Tabakwaren, Zeitungen oder Schreibwaren bezeichnet. Diese Bildungslücke kann ein Kinoliebhaber spielend mit einem Besuch in „Der Trafikant“ von  Regisseur Nikolaus Leytner schließen. Hier geht der junge Franz aus einem beschaulichen Dorf am Attersee im Jahr 1937 in einer Trafik in Wien in die Lehre. Der Film begleitet ihn in seinem ersten Jahr in der großen, fremden und für den Zugereisten erstmal stinkenden Stadt Wien: Er lernt nicht nur feine Zigarren und das Verkaufshandwerk kennen, sondern befreundet sich auch mit Sigmund Freud, einem regelmäßigen Kunden in der Trafik. Von ihm erhofft er sich Ratschläge in Sachen Liebe, denn Franz ist zum ersten Mal hoffnungslos verliebt. Dann marschiert Hitler im vormals unabhängigen Österreich ein und die neuen politischen Verhältnisse erschüttern nicht nur das Leben des jüdischstämmigen Freud.

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Literaturverfilmung voll Dialekt und nahbarer Charaktere

Mit „Der Trafikant“ adaptiert Regisseur Nikolaus Leytner, der sich in den letzten Jahren vor allem als österreichischer Fernsehfilmer einen Namen machte, den gleichnamigen Bestseller von Robert Seethaler. Ihm gelingt ein feinfühliges Portrait einer Gesellschaft im Wandel, angesiedelt zwischen Heimatfilm und Coming of Age-Drama. Bei der Besetzung setzte Leytner auf hochkarätige deutschsprachige Schauspieler wie Bruno Ganz, gab aber in der Hauptrolle auch dem 22-jährigen Nachwuchsschauspieler Simon Morzé eine Chance, mit dem er im Jahr 2006 schon einmal zusammengearbeitet hatte. Morzé überzeugt als liebenswerter junger Mann vom Dorf, der versucht die Welt, seine Gefühle und vor allem die Frauen zu verstehen. Die Zuschauer können ihn dabei beobachten, wie er als Franz nach und nach zu mehr Selbstbewusstsein findet und schließlich den Mut fasst für seine Überzeugungen einzustehen. Unterstrichen wird die Authentizität der Geschichte durch die Mundart der Protagonisten. Teilweise führt dies zwar dazu, dass einzelne Satzteile unverstanden bleiben, dies tut dem Filmerlebnis jedoch keinen Abbruch.

Idylle versus Gefahr 

Im Verlauf des Films tauchen wie beiläufig immer mehr Hakenkreuzbinden im Blickfeld des Zuschauers auf. Leytner erzeugt auf diese Weise subtil ein Gefühl von Bedrohung, das durch das historische Vorwissen des Zuschauers gespeist wird. Auch die Liebesgeschichte zwischen Franz und der etwas älteren Anezka trägt zur Spannung des Films bei – wenn dem Zuschauer die frivole und gar so unverbindliche Böhmin auch ein bisschen auf die Nerven gehen kann. Visualisierte Träume des jungen Franz kommentieren und durchbrechen das Filmgeschehen regelmäßig und runden den Film mit surrealistisch-malerischen Bildern ab.

Ein poetisch- subtiler Blick auf die Vergangenheit 

Die österreichisch-deutsche Gemeinschaftsproduktion arbeitet anhand eines „unbedeutenden“ Lehrlings ein Stück Zeitgeschichte auf. Sie regt zum Nachdenken an und führt wieder einmal vor Augen führt, was für ein unbeschwertes und freies Leben wir in der Gegenwart führen dürfen. Der Film verspricht einen unterhaltsamen und kurzweiligen Kinoabend, würde aber auch auf der kleineren Leinwand im Heimkino noch wirken.

„Der Trafikant“ läuft ab Donnerstag, den 01.11.2018 in den deutschen Kinos.