
Buchkritik
(Wirtschafts-) Wunderland
Der Begriff „Wirtschaftswunder“ beschreibt die Zeit des raschen wirtschaftlichen Aufstiegs in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Harald Jähner begibt sich in seinem neuen Buch “Wunderland – Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955–1967” auf die Spur einer Zeit, die die noch junge Bundesrepublik nachhaltig geprägt hat.
Wer “Wirtschaftswunder” hört, wird wahrscheinlich an Ludwig Erhard denken, vielleicht noch an den millionsten VW-Käfer, der vom Band rollt, oder an eine glücklich strahlende Hausfrau in der Dr. Oetker Puddingwerbung. Doch wie war diese Zeit wirklich? Wie wurde das ehemalige NS-Deutschland zu der BRD, wie wir sie heute kennen? Und vor allem: Wie haben die Menschen damals diesen Wandel erlebt? Diesen und weiteren Fragen widmet sich Harald Jähner in “Wunderland – Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955-1967” sehr detailliert und gründlich.

Informierend und dennoch unterhaltsam
Harald Jähner ist mit “Wunderland” ein Buch gelungen, welches das Informative eines Sachbuchs mit dem Unterhaltsamen der Belletristik vereint. Mit viel Witz und Humor, doch auch tiefgründig und informiert malt Harald Jähner ein sehr differenziertes Bild der BRD in den Jahren des Wirtschaftswunders. Durch die einfache und dennoch raffiniert aufgebaute Sprache behält Jähner die Aufmerksamkeit der Leser:innen, ohne von oben herab zu sprechen oder sie in Informationen zu ertränken. “Wunderland” zeichnet sich durch seinen lockeren, manchmal süffisant-ironischen, doch immer sachlichen Ton aus.
Die Jahre zwischen 1955 und 1967 bildeten das sogenannte Wirtschaftswunder. Nie zuvor wurden so viele Menschen in so kurzer Zeit so wohlhabend. Nie wieder wurden so viele Kinder geboren. Aber es wurden auch nie wieder so viele Überstunden gemacht, so viele Doppelschichten gefahren, so viel Alkohol getrunken, um herunterzukommen.
Harald Jähner – “Wunderland – Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955-1967”
Jähner beruft sich auf viele Quellen, um seine Fakten zu untermauern. Gleichzeitig schildert er historische Ereignisse sehr detailgetreu und dennoch menschennah. Auch die von ihm eingebrachten Anekdoten lockern den Text auf und sorgen dafür, dass den Leser:innen ein authentisches Bild der damaligen Zeit vermittelt wird.

Nicht alles ist Gold, was glänzt
Harald Jähner porträtiert die noch junge BRD mit viel Einfühlungsvermögen; dennoch schafft er es, auch weniger glanzvolle Kapitel der westdeutschen Geschichte sachlich und nuanciert darzustellen. So etwa in dieser Passage, die erklärt, warum die Gesellschaft der 1950er Jahre Frauen am liebsten als Hausfrau und Mutter sah.
Kriegszeiten und Phasen des Aufschwungs förderten die Berufstätigkeit der Frauen, Perioden mit verbreiteter Arbeitslosigkeit sahen sie vorzugsweise daheim. Die ersten Jahre der frisch gegründeten Bundesrepublik waren vom wirtschaftlichen Optimismus, aber auch von relativ hoher Arbeitslosigkeit bestimmt. Prompt sank das Ansehen der berufstätigen Frau. So unverzichtbar ihre Arbeit im Krieg und in den Nachkriegswirren gewesen war, so sehr sah man durch sie nun die gesellschaftliche Balance gestört.
Harald Jähner – “Wunderland – Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955-1967”
Harald Jähner stellt damit in “Wunderland” auch einen Bezug zur heutigen Zeit her – Gleichberechtigung ja, aber nur wenn nicht unbequem!

Die Gäste, die eigentlich keine waren
Ebenso ehrlich und unbeschönigt widmet sich Harald Jähner der Geschichte der sogenannten “Gastarbeiter”. Dass diese Menschen (die Deutschland beim Wiederaufbau helfen und dann vorzugsweise wieder in ihre Heimatländer zurückkehren sollten) grundsätzlich falsch benannt waren, merkt Jähner messerscharf und mit großen Durchblick an.
Der Begriff “Gastarbeiter” sollte jede Hoffnung zunichtemachen, sich in Deutschland auf Dauer niederlassen zu können. Gastarbeiter waren als Puffer auf dem launischen Arbeitsmarkt vorgesehen, nicht als Mitbürger. Rechtssicherheit gab es nicht, weil Gäste nun einmal vom Wohlwollen des Gastgebers abhängig sind.
Harald Jähner – “Wunderland – Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955-1967”
Auch anderen, ähnlich schwierigen Themen wie die nur dürftig gelungene Entnazifizierung oder der damaligen Behandlung von Homosexuellen widmet sich Harald Jähner mit dem notwendigen Feingefühl, ohne apologistisch oder relativierend zu werden.
Harald Jähner ist mit “Wunderland” ein Buch gelungen, welches die Leser:innen mehr fesseln wird als das typische Sachbuch. Durch seinen gekonnt informativen und gleichzeitig unterhaltsamen Schreibstil vermittelt es Fakten, die vielleicht länger hängenbleiben und tieferen Eindruck hinterlassen als alles, was man über die Wirtschaftswunderzeit glaubt zu wissen.
“Wunderland – Die Gründerzeit der Bundesrepublik 1955-1967“” von Harald Jähner ist beim Hanser-Berlin-Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 32 Euro.