Kommentar

Sofa-Ethik zur Primetime

/ / Bild: M94.5 // Anna Venus

Die Filme von Ferdinand von Schirach werden als Erfolg des progressiven Fernsehens gefeiert. In Schirachs aktuellem Werk „Feinde“ geht es um die Frage, ob Folter unter Umständen richtig sein kann. Damit werden bisherige gültige moralische Grenzen ausgedehnt. Ein Kommentar von Kilian Schroeder.

Der Kommissar muss verzweifelt gewesen sein. Anders lässt sich sein Verhalten nicht erklären. Vor ihm sitzt der mutmaßliche Entführer eines kleinen Mädchens, das vielleicht noch lebt. Aber er will ihm nicht verraten, wo er das Kind versteckt hat. Also entscheidet sich der Kommissar, den Verdächtigen zu foltern, bis dieser gesteht. Dieses Geständnis aber gilt vor Gericht nicht, der mutmaßliche Entführer wird freigesprochen.

Darf ein Mensch im Ausnahmefall gefoltert werden?

Es ist die Geschichte von „Feinde“, einem Werk von Ferdinand von Schirach, das Anfang des Jahres in der ARD und seinen dritten Programmen von Regisseur:innen in Filme umgesetzt wurden. Die Zuschauer:innen konnten wählen: Im Ersten kam die Geschichte aus der Perspektive des Kommissars, in den dritten Programmen wurde die Sicht des Strafverteidigers des Verdächtigen gezeigt.

Ferdinand von Schirach arbeitet oft bekannte Dilemmasituationen auf. Damit ist er erfolgreich, vor allem sein Kammerspiel “Terror” kann man immer noch regelmäßig auf deutschsprachigen Bühnen sehen. Aber letztendlich stehen die dazu entstandenen Filme exemplarisch für die Ausdehnung ethisch-moralischer Grenzen und eine mögliche Radikalisierung des Publikums zur TV-Primetime.

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In Deutschland dürfen Menschen nicht gefoltert werden. Nie. Die Rechtslage ist eindeutig und Ferdinand von Schirach, selbst Strafverteidiger, weiß das auch. In einem Statement schreibt er:

„Wir halten den Mann für den Mörder, wir glauben zu wissen, was er getan hat. Die Prozessordnung lässt aber nicht zu, dass er verurteilt wird. Das ist schwer erträglich.“

Ferdinand von Schirach

Von Schirach möchte zeigen, dass die Perspektiven auf einen Sachverhalt extrem unterschiedlich sein können, gefühlte Gerechtigkeit und geltendes Recht nicht unbedingt immer deckungsgleich sein müssen – und dass aber auch bei den schlimmsten Verbrechen am Ende das Recht gelten muss. Aber die Frage, die am Ende der Filme steht, ist: „Ist der Freispruch gerecht?“ Diese Frage führt, denkt man sie konsequent zu Ende, zu: „Darf ein Mensch im Ausnahmefall gefoltert werden?“

Damit öffnet sich eine Tür: „Was ist aber, wenn…?“ und noch viel schlimmer: „Was würde ich tun?“ Die Gefahr darin besteht, dass sich die Zuschauer:innen unbewusst radikalisieren. Menschen finden sich in Dilemmasituationen wieder, aus denen kein Ausweg richtig ist – also wählt man das kleinere Übel. Wer will schon derjenige sein, der den Tod eines kleinen Mädchens verantworten muss, weil er den Verdächtigen nicht zum Reden bringt? Dann laden wir eben die kleinere Schuld auf uns. So lange, bis wir sie willentlich in Kauf nehmen, vielleicht sogar denken, dass es das Richtige ist – für „das größere Wohl“.

Alle Antworten sind unzureichend

Es ist im Grundsatz richtig, ethische Grenzfälle zu diskutieren. Es zeigt auch die Stärke einer demokratischen Gesellschaft, sich davor nicht wegzuducken. Ferdinand von Schirach schreibt:

„Der Film bietet den Zuschauern dagegen die Möglichkeit, beide Seiten zu sehen und zu verstehen, dass die Dinge oft nicht so einfach sind, wie sie im ersten Moment scheinen“.

Ferdinand von Schirach

Aber dann reduziert er das Problem auf die viel zu vereinfachte Unterteilung „gerecht/ungerecht“, „Freispruch/Verurteilung“ – und beide Antworten sind unzureichend. In „Terror“ sollten die Zuschauer:innen sogar hinterher darüber abstimmen, ob ein Kampfpilot ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug abschießen darf, das auf die volle Allianz-Arena zurast. 100 Leben gegen 70 000. Diese hochkomplexe ethische Frage sollte nicht auf dem Sofa am Handy entschieden werden.

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Wir sollten nicht nach diesen Regeln spielen

Es wäre falsch, der ARD und Ferdinand von Schirach vorzuwerfen, Menschen willentlich radikalisieren zu wollen. Extremist:innen wenden dazu noch weitere Mechanismen an, zum Beispiel indem sie Menschen entpersonalisieren. Bei „Feinde“ dagegen sollen ja die Personen hinter den Labels „Kommissar“, „Angeklagter“ und „Verteidiger“ hervortreten. Aber welche Argumente in der Diskussion vorkommen, das entscheidet Ferdinand von Schirach. Das Spiel, das wir als Zuschauer:innen spielen, läuft nach seinen Regeln ab – und innerhalb dieser Regeln müssen wir entscheiden.

Was aber passiert, wenn wir immer wieder entscheiden, dass wir moralisch richtig liegen und das Grundgesetz falsch? Wenn wir uns immer wieder im Fernsehen ansehen, dass es unter Umständen „richtig“ sein kann, sich über Grundrechte hinwegzusetzen? Moralische Grenzen werden nicht mehr diskutiert, sondern ausgeleiert. Im Extremfall finden wir es irgendwann richtig, Menschen zu foltern oder Flugzeuge abzuschießen – es ist doch für einen guten Zweck. Solche Mechanismen bekommen derzeit regelmäßig eine Plattform zur besten Sendezeit.

Sollen wir nach den Regeln Ferdinand von Schirachs spielen? Die Antwort muss Nein lauten. Es ist das Wesen dieser Fragen, dass man als Mensch diese nicht beantworten kann. Stattdessen sollten wir in diesem Fall nicht entscheiden, sondern einfach abschalten.

Die ARD hat zu dem TV-Projekt „Feinde“ einen Link zur Verfügung gestellt, auf dem sich Zuschauer:innen sich über den rechtlichen Hintergrund informieren und die Statements der Schauspieler:innen sowie Ferdinand von Schirachs nachlesen können. Außerdem klärt ein Dokumentarfilm über die ethischen Fragen im Film auf. Die Filme selbst sind bis auf Weiteres in der Mediathek der ARD weiterhin zu sehen.