Kommentar

Revolution! Und dann? – Was Kino als Kritik leisten kann

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Mit den drei Herbst-Kino-Highlights “Joker”, “Systemsprenger” und “Parasite”, die seit Wochen Presse und Publikum begeistern, ist Systemkritik im Kino wieder so en vogue, wie sie es lange nicht mehr war. Doch in welcher Form findet diese Kritik statt? Wie unterscheidet sich die amerikanische Perspektive von der deutschen und der südkoreanischen? Und kann das Kino in der Gesellschaft überhaupt etwas bewirken? (Achtung, Spoiler.)

Die Entdeckung der Gewalt

Das Zeitalter der großen Revolutionen ist vorbei. Auch im Kino, zumindest bis vor kurzem. Doch jetzt bewegt sich etwas auf den Leinwänden dieser Welt. Plötzlich ist da wieder Platz für Gewalt, Revolution und universelle Botschaften. Und das in Zeiten der Political Correctness, der Fridays-For-Future-Bewegung und des Kulturrelativismus. Es scheint, als sei auch im Kino die Botschaft durchgesickert, dass die gegenwärtigen Verhältnisse keine unpolitische Haltung mehr zulassen, dass die Politik doch alle Bereiche des Lebens durchdringt.

Die Natur

Es gibt in dem gefeierten Aufstiegs-Drama Parasite aus Südkorea eine ganz entscheidende Szene, in der Protagonist Kim Ki-woo (Choi Woo-shik) und seine wohlbehütete Nachhilfeschülerin Park Da-hye (Jeong Ji-so) aus dem Fenster heraus die Gartenparty beobachten, die vom reichen Park-Ehepaar in ihrem Herrenhaus „ganz spontan und locker“ zu Ehren ihres Sohnes organisiert wird. Der aus prekären Verhältnissen stammende Ki-Woo lässt seinen Blick über die Festgemeinde streifen und stellt bewundernd fest, wie natürlich und entspannt die Teilnehmer wirken. Als wäre der Reichtum, in dem sie sich bewegen, etwas ganz Selbstverständliches, als wäre die ganze Situation selbst bloß ein Schauspiel der Natur.

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Trailer zu Bong Joon-Hos bissigem Durchschlagerfolg Parasite.

Doch wenn uns Parasite eines zeigt, dann dass die Natur nicht bloß Natur ist, sondern immer auch Politik. Der Handlungsort Seoul wird in einer Episode von einem sintflutartigen Unwetter heimgesucht, einer Katastrophe, die sich als solche aber nur für das soziale Prekariat entpuppt. Während die Parasiten-Familie Kim die Villa der Parks hütet und das Naturspektakel von der Couch aus beobachtet, werden die Armenviertel von Seoul gnadenlos überflutet. Plötzlich sehen wir die Kims, deren eigene Kellerwohnung just im selben Moment absäuft, die Rolle der Privilegierten einnehmen. Durch die riesige Fensterscheibe im Park’schen Wohnzimmer, die wie eine Kinoleinwand daherkommt, schauen sie auf die Katastrophe, als hätte sie nichts mit ihnen zu tun. Und die großartig von Regisseur Bong Joon-Ho (Snowpiercer, Mother) versteckte Botschaft an dieser Stelle lautet: Wir selbst, in unseren Kinosesseln, sitzen gewissermaßen in der Villa der Parks, und sehen durch die Leinwand auf eine unterhaltsam ungerechte Welt, als ginge sie uns nichts an. Als wäre sie ein Schauspiel der Natur.

Drei Stufen der Kritik

Diese Komplexität der Reflexion erreichen weder Todd Philipps (Hangover) Joker noch der deutsche Überraschungserfolg Systemsprenger von Regisseurin Nora Fingscheidt – wobei sie in letzterem Film zumindest im Kern schon angelegt ist. Man könnte es so ausdrücken, dass die drei Filme gleichsam drei Stufen der Kritik darstellen: Joker als moralisierende Kritik am System auf psychologischer Ebene; Systemsprenger als nüchterne Darstellung des objektiven Irrsinns einer Welt, die keinen Joker braucht, um gesprengt zu werden, sondern sich letztlich selber sprengt; und nicht zuletzt Parasite, wo beide Perspektiven verknüpft werden, es aber weder bei einer bloßen Darstellung der Tatsachen, noch bei einer oberflächlichen Psychologisierung bleibt. Parasite schraubt sich in seinen 132 Minuten immer weiter herab in das Abgrundhafte, in das grausam Absurde seines Systems, sodass letztlich nicht die psychologischen oder systemischen Symptome der gesellschaftlichen Antagonismen im Mittelpunkt stehen, sondern diese Antagonismen und ihre Funktionsweisen selber. Ja, besonders in der Groteske des Horrors offenbart Parasite seine größte Wahrhaftigkeit.

„Du bist so lieb, Frau Bafané!“

Die vielleicht wichtigste Parallele zwischen Systemsprenger und Parasite ist das Motiv der Freundlichkeit. In Systemsprenger tritt „das System“ nicht im konspirativen Sinne als böser Akteur mit schlechten Absichten auf. Selbst die Mutter von Benni (Helena Zengel), die offensichtlich am meisten Schuld (im banalen Sinne) an der Aussichtslosigkeit der Situation ihrer Tochter trägt, wird in all ihrer Hilflosigkeit so dargestellt, als gebe sie dennoch ihr Bestes.  Und die Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen, die ja wohl am meisten für das System stehen, verhalten sich sogar nahezu vorbildlich, geben nun wirklich ihr Bestes. Besonders zeigt sich das in den Figuren der Sozialarbeiterin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) und des Schulwegbegleiters Micha (Albrecht Schuch), die beide die Hoffnung der Rettung verkörpern, die Hoffnung auf ein Happy-End für Benni. Doch auch sie scheitern. Die kleine Benni fällt durch alle Raster, es gibt keinen „easy way out“. Benni sagt ihrer Sozialarbeiterin Frau Bafané immer wieder, wie nett sie sei: „Du bist so lieb, Frau Bafané!“

Benni (Helena Zengler) erlebt einen Wutausbruch. Bild: Yunus Roy Imer/Port au Prince Pictures

Und auch in Parasite tritt „Das System“ in all seiner Freundlichkeit auf. In der vermutlich komischsten (und tragischsten) Szene des Films, in der sich herausstellt, dass die ehemalige Haushälterin in dem Bunker der Park-Villa seit Jahren ihren karikativen Ehemann versteckt, weil er sich keine eigene Wohnung leisten kann, explodiert plötzlich alles. Die einen Parasiten drohen den anderen Parasiten, das ganze Schauspiel ist kurz davor aufzufliegen. Doch nicht das Erkennen des wahren, gemeinsamen Feindes (nämlich die Unterdrücker: Familie Park) hält die Unterdrückten schließlich davon ab, sich gegenseitig ins Verderben zu stürzen. Nein, Vater Kim Ki-taek (Song Kang-ho) bringt es auf den Punkt. Er sorgt sich plötzlich um seine Vorgesetzten, sie seien doch so freundlich und nett, das könne man ihnen doch nicht antun, die Wahrheit würde ihre ganze Welt zum Einsturz bringen. Diese stockholmsyndromartige Solidarisierung mit den Mächtigen ist Ideologie in ihrer Reinform.

„Das Kapital steht lächelnd daneben und wünscht allen das Beste“

Während sowohl die Familie Park in Parasite als auch die Sozialarbeiter*innen in Systemsprenger, die ja jeweils das System verkörpern, durch Gewissenhaftigkeit, Freundlichkeit und Korrektheit charakterisiert sind, macht Joker den Fehler, nicht das System, sondern die Moral einzelner Individuen zu kritisieren, und von dort aus auf das Ganze zu schließen. Der Moderator Murray Franklin (Robert de Niro) wird als quotengesteuerter Zyniker dargestellt, der in seiner Late-Night-Show Menschen am liebsten vorführt. Die Sozialarbeiterin, der Arthur „Joker“ Fleck (Joaquin Phoenix) wöchentlich Rechenschaft ablegen muss, ist schlampig, hört nicht zu, ihr fehlt es an Empathie. Arthurs Kollege Randall entpuppt sich als feiger Opportunist, sein Chef als Arschloch, seine Mutter als psychisch gestörte Frau, die ihn in der Kindheit missbraucht hat. All diese Verdorbenheit seiner Nächsten eignet sich für Arthur (und für uns Zuschauer*innen) natürlich wunderbar als Erklärung für seinen individuellen Wahnsinn, die wahre Kritik bleibt dabei aber aus. Denn dadurch, dass hier im Sinne der neoliberalen Ideologie „Bottom-Up“ argumentiert wird, bekommt man den Eindruck, man müsse nur ein bisschen an seinem Anstand und seiner Moral arbeiten, und die Probleme wären gelöst.

Arthur “Joker” Fleck (Joaquin Phoenix) legt seine Maske an. Bild: Warner Bros.

Diese Möglichkeit geben uns Systemsprenger und Parasite nicht. Im Gegenteil: Hier ist „das System“ stets freundlich und kompetent, während die Verlierer, die Eindringlinge, die Problemkinder als wahrhaftige Antihelden erscheinen, als Intriganten, Mörder, Gewalttäter, Egoisten, Rüpel. Sie bedienen sich dem Vokabular des Bösen, während das Kapital stets lächelnd danebensteht und allen das Beste wünscht.

Keon-kyo (Yeo-jeong Jo) in Parasite. Bild: NEON + CJ Entertainment

Revolution! Und dann?

Am Ende aller drei Filme bekommen wir eine kleine Revolution zu Gesicht. Dieses universalistische Revolutionsmoment im Film ist in dieser Form doch schon etwas Neues, war doch der Trend der letzten Jahre (nicht nur im Kino) eher eine kulturpluralistische Abbildung der Komplexität unserer postmodernen Welt (wie etwa in Roma, Moonlight, etc.). Doch die drei Revolutionen in Joker, Systemsprenger und Parasite könnten unterschiedlicher gar nicht sein.

In Joker erleben wir eine Pseudorevolution. Die Straßen von Gotham explodieren, die Clownsmasken-Bewegung übernimmt das Kommando, es herrscht Chaos und an der Spitze steht der Joker. Doch diese Revolution hat nichts Befreiendes, sie bewirkt – sowohl in Gotham als auch im Kinosaal – wahrscheinlich das Gegenteil ihrer Intention: entweder eine platte Umkehrung der neoliberalen Elitenlogik zugunsten der Benachteiligten, oder aber eine Aporie. Zur Alternative steht auf der einen Seite ein „weiter so“, für das der Moderater Murray (und später dann Batman) steht, und auf der anderen Chaos und Gewalt, hier durch den Joker personifiziert. Die wahre, dritte Alternative eines strukturellen Wandels wird unterschlagen und das zugrundeliegende System bleibt unberührt.

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Trailer zum wahrscheinlich am hitzigsten diskutierten Film des Jahres, Joker.

Die Revolution in Systemsprenger ist da schon cleverer inszeniert. Ganz am Ende droht Benni, gewissermaßen als letzte Möglichkeit, die absolute Marginalisierung. Sie soll nach Afrika geschickt werden, um dort Teil einer Art Boot-Camp zu werden. Doch nachdem Benni, schon am Flughafen, die Sicherheitskontrolle passiert, reißt sie aus und der ganze Kreislauf von Weglaufen–Psychiatrie–Notunterkunft–Heim–Rauswurf–Auffangstation–Weglaufen geht von vorne los. Benni nutzt ihr revolutionäres Potential in der einzigen ihr möglichen Form: Sie irritiert und beleidigt, kratzt und schimpft, flucht und schreit, ist wütend. So sieht sich das System beständig mit seinen eigenen Lücken konfrontiert und die Hoffnung der Regisseurin Fingscheidt wird es wohl gewesen sein, mit ihrem Film genau das zu erreichen. Irritation zu schaffen, damit Probleme transparent werden.

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Trailer zu Systemsprenger, dem deutschen Kandidaten im Revolutions-Triptychon.

Der Mut der Hoffnungslosigkeit

Es ist schwer zu sagen, ob Bong Joon-Ho mit Parasite dieselbe Hoffnung für denkbar hält. Hier blitzt die Möglichkeit der Revolution nur in einem ganz kurzen Moment auf, um dann sofort wieder im Keim erstickt zu werden. Im blutigen Finale auf der Gartenparty, in der sich zunächst die Parasiten gegenseitig zerfleischen, entsteht dann doch noch etwas wie Solidarität unter den Armen. Der Vater, Hausherr und Manager Park Dong-ik (Lee Sun-kyun), will fliehen, doch der Schlüssel seines Mercedes-Benz wird leider von einer Leiche verdeckt. Er muss den toten und stinkenden Körper zur Seite schieben, hält sich dabei die Nase zu und offenbart hier seinen wahren Kern. Das Prekariat ist ihm egal. Vater Kim beobachtet die Szene, zieht seine Schlüsse und ersticht seinen Vorgesetzten. Dieser kurze Moment der Klarheit, in dem der Unterdrückte den wahren Feind erkennt, wird schon nach Sekunden wieder verschleiert. Schlechtes Gewissen und die Aussicht auf eine Verhaftung zwingen ihn dazu, unterzutauchen, zynischer Weise in den Bunker unter der Park-Villa.

Hier wird auch die eigentliche Machtlosigkeit des Individuums gegenüber den herrschenden Verhältnissen deutlich, die ja heutzutage ansonsten für falsch angesehen wird. Die individuellste und reinste Form der Revolution, nämlich der Mord an einem herrschenden Individuum durch ein beherrschtes (wie wir es auch in Joker beobachten), muss notwendig scheitern, denn das Strukturelle bleibt davon unberührt und sanktioniert das Verbrechen, wodurch das System sogar bestärkt hervorgeht. Diese traurige Botschaft bleibt am Ende von Parasite übrig: Um seinen Vater wiederzusehen, muss Sohn Kim Ki-Woo selbst reich, erfolgreich und mächtig werden, also die immanente Logik des Kapitals absolut integrieren.

Doch hoffnungslos ist die virtuose Analyse unserer Gesellschaft, die Regisseur Bong Joon-ho mit Parasite abliefert, keineswegs. Die Hoffnung hat einen Platz in diesem Film, besser: in den Kinosälen dieser Welt. Sie wird in die Zuschauer*innen gelegt, denen jegliche Identifikation mit der Armut der Familie Kim versagt wird. Das Publikum, müssen wir bestürzt am Schluss feststellen, sieht Parasite wohl eher aus der Perspektive der Parks, wir bewegen uns selbst im Privileg. Diese subversive Botschaft ermöglicht letztendlich wahre Reflexion und zeigt nach allen Regeln der Kunst, was Kino heutzutage noch bewirken kann.

“Parasite”, “Joker” und “Systemsprenger” sind aktuell im Kino zu sehen.