Oscars 2021

Nomadland

/ / Bild: Searchlight Pictures, 20th Century Studios

Mit sechs Nominierungen zählt Chloé Zhaos Nomadland zu einem der großen Favoriten der diesjährigen Oscars. Nicht nur stellt die Academy damit Anerkennung für eine Frau in der Regie-Position in Aussicht, sondern sie würdigt auch ein Sozialdrama über eine Frau mittleren Alters, wie man sie selten auf der großen Leinwand sieht. Was könnte daran schon falsch sein? So einiges.

Ein Film über die Armen, die Abgeschlagenen, die (vorwiegend weiße) Unterschicht Amerikas: In Nomadland sollen diejenigen zu Wort kommen, die gerade auf ihre Rente zusteuern, sich diese Rente aber nach Jahrzehnten in Geringverdiener:innen- und Gelegenheitsjobs nicht leisten können. Also werden sie ins titelgebende Nomadentum gedrängt. Sie verlagern ihren Lebensmittelpunkt auf die Wohnwagen, in denen sie fortan leben. Regisseurin Chloé Zhao hat sich damit einen spannenden Brennpunkt zur Kulisse auserkoren. Nur bleiben die echten Schicksale hinter dem sentimentalen poverty porn leider nicht mehr als das: Kulisse.

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Sentimentale Bilder und ein bisschen Klaviermusik: der Trailer zu Nomadland.

Eine ungesunde Kreuzung aus Doku und Fiktion

Das Vertrackte an Nomadland ist gar nicht die Story an sich. Hauptfigur Fern steht stellvertretend für eine ganze Generation an Amerikaner:innen, die sich ihr Leben lang gerade so über Wasser gehalten haben und sich trotz all der harten Arbeit auf keinerlei soziales Netz verlassen können, das sie nach einer finanziellen Krise auffangen würde.

Nach dem Börsencrash 2008 und einer damit einhergehenden Fabrikschließung verschwindet Ferns Heimatort von der Landkarte. Nach dem Tod ihres Ehemanns muss sie irgendwie über die Runden kommen. Fern zieht in einen alten Camper Van, um Mietkosten zu sparen, während sie von einem Job zum nächsten pilgert. Dabei begegnet sie unzähligen Menschen, denen es genauso geht wie ihr.

Das ist eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Allerdings ist es keine Geschichte, die von Zhaos Dokufiktions-Stil profitiert. Im Gegenteil: Zhao enthüllt damit vielmehr die ausbeuterische Hollywood-Rührseligkeit ihres eigenen Films. Fern bewegt sich als Figur zwar unter Gleichberechtigten. Ihre Darstellerin Frances McDormand tut es aber nicht. Während sie, die glitzernde Hollywood-Schauspielerin mit Oscar im Regal, sich in einen fiktiven Charakter hineinversetzen muss, der täglich mit existenziellen Ängsten zu kämpfen hat, sind all die Menschen um sie herum echt.

Soll heißen: keine Schauspieler:innen, sondern tatsächliche Nomad:innen. Sie leben tatsächlich auf der Straße, weil sie sich tatsächlich nichts anderes leisten können. Das soll Ferns Geschichte Authentizität verleihen, wenn sie verständnisvoll lächelt und Alltagsweisheiten abnickt. Dabei bleibt aber ein unangenehmer Beigeschmack von Armuts-Tourismus: Einmal schnell vorbeigeschaut, um mit den Mittellosen mitzufühlen und sich für die eigene Empathiefähigkeit zu loben. Dann geht’s zurück in den gemütlichen Wohlstand. Leider funktioniert das nur für Filmcrew und Zuschauer:innen, alle anderen bleiben wortwörtlich auf der Strecke.

Eine Szene mit den echten Nomad:innen am Lagerfeuer. Bild: Searchlight Pictures, 20th Century Studios

Bekömmlich und fernab von der Realität

Nomadland, den Regisseurin Chloé Zhao auch geschrieben und selbst geschnitten hat, ist inspiriert von dem Buch Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century – kein Roman, sondern ein Sachbuch. Mit der Vorlage hat der Film letzten Endes nicht mehr viel gemein. Er präsentiert eine verwaschene, leicht verdauliche Hollywood-Version der Realität. Die komplizierten Details hat Zhao ausgespart – etwa die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in den Amazon-Lagerhäusern, in denen auch Fern arbeitet. Die schlechte Bezahlung, das ungünstige Aufeinandertreffen von Gesundheitsproblemen und überteuerter medizinischer Versorgung.

Während im Buch Zitate fallen wie „Ich hasse diesen scheiß Job“ und „Amazon ist wahrscheinlich der größte Sklavenbesitzer der Welt“, berichtet Fern gleich zu Beginn des Films, sie arbeite gerne für Amazon, denn da verdiene sie „gutes Geld“. Kein Wunder, dass Zhao in den heiligen Hallen von Amazon drehen durfte. Im späteren Verlauf erhält ein Kollege eine notwendige Operation ohne weitere Zwischenfälle, als würden Krankenversicherungen und medizinische Kosten in diesem Universum schlicht nicht existieren, so wie auch politische Diskussionen hier nicht existieren. Ohne all diesen lästigen Ballast bleibt Platz für Ferns inspirierende Story.

Fern (Frances McDormand) umrahmt von Nomadlands melancholischer Sonnenuntergangs-Stimmung. Bild: Searchlight Pictures, 20th Century Studios

Eine Portion Wehmut für das Proletariat

Das Problem ist, dass Zhao eine kompetente Filmemacherin ist. Nomadland serviert dieses verharmloste Sozialdrama in malerischen Bildern, in wunderschönen Landschaftsaufnahmen, die die Not zur Tugend stilisieren. Das Leben auf der Straße weckt die uramerikanische, romantische Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Wer würde bei derart überwältigenden Panoramen nicht auch mit dem Wohnwagen in den Sonnenuntergang fahren wollen? In Zeiten von Minimalismus, digital nomads und tiny houses klingt das gar nicht so schlecht. Der Film stülpt seinen Protagonist:innen das populistische Ideal über, arme Menschen seien bodenständiger, der Natur näher, ihr Daseinskampf weniger Existenznot als spirituelle Reise auf dem Weg zur Selbsterfüllung.

Dieses Prinzip ist in Hollywood nicht neu: die Arbeiterklasse erhöhen und zugleich nicht zu Wort kommen lassen. Die Nebenfiguren sind in den Dialogen vor allem Beiwerk und äußern sich zumeist zu Ferns Schicksal statt ihrem eigenen, als wären sie fiktive Charaktere, die sich der Dramaturgie unterzuordnen haben, und keine echten Menschen.

Fern wird großartig subtil von McDormand verkörpert, spricht kaum und vermittelt doch so viel. Fern, die in einem Anfall von Realismus beweist, dass auch Oscar-Gewinner:innen in einen Eimer kacken können. Zu allem Überfluss stellt sich jedoch heraus, dass Fern aus einer wohlhabenden Familie kommt und eigentlich ein sicheres Dach über dem Kopf hätte, sich aber lieber für ihr abenteuerliches Leben im Camper entscheidet. Kein Schicksal also, sondern ein Lifestyle.

Gut gemeint ist nicht gleich gut gemacht

Nomadland möchte mit Sicherheit nichts Böses, sondern den Abgehängten endlich eine Stimme verleihen. Für diejenigen, die tatsächlich am wirtschaftlichen Abgrund stehen, ist das moderne Nomadenleben aber nun mal keine Option, sondern ein Muss. Durch Zhaos befremdlich unpolitische Herangehensweise bleiben ihre Protagonist:innen ebenso ungehört wie zuvor. Den größten Gefallen hätte der Film sich und seinem Thema getan, wenn er eine reine Dokumentation geworden wäre.

Nomadland ist seit Februar beim Streaming-Anbieter Hulu verfügbar und soll am 8. April 2021 in die deutschen Kinos kommen.