Erinnerungskultur: LMU Science Talks

Erinnerungskultur: Können wir aus der Geschichte lernen?

/ / Foto: Shutterstock / pathdoc

Ob Denkmäler, Mahnmale oder seit 2015 auch das NS-Dokumentationszentrum im Herzen von München: Erinnerungskultur ist nicht nur in der Geschichtswissenschaft sehr präsent, sondern begegnet uns auch im Alltag. Doch wie können wir verantwortungsvoll erinnern?

In der achten und vorerst letzten Ausgabe der LMU Science Talks diskutierten unlängst Doktorin Mirjam Zadoff, die Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München, sowie der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Professor Andreas Wirsching, inwieweit wir aus der Geschichte lernen können. Eine Herausforderung, die sie sehen, ist, dass es für die NS-Verbrechen immer weniger Zeitzeug:innen gibt. Podiumsgast Mirjam Zadoff betonte, dass Erinnerungskultur mittlerweile zwar breit in der Gesellschaft verankert sei. Allerdings müsse sie stets in Bewegung bleiben und könne auch nicht isoliert oder nationalisiert werden.

WIEDERHOLT SICH GESCHICHTE?

Doch führt ein bewusstes Erinnern auch dazu, dass wir Lehren aus der Geschichte ziehen können? Podiumsgast Andreas Wirsching spricht in diesem Zusammenhang von Potenzialen in der Geschichte, für die es in der Gegenwart Analogien gibt. Er macht jedoch deutlich, dass die Geschichte uns keine Entscheidungen abnehmen könne. So hätte beispielsweise die Entscheidung, wie wir heute mit einem Aggressor wie Putin umgehen, vor allem eine poltisch-militärische Ebene. Hier könne die Geschichtswissenschaft lediglich Orientierung geben, denn jede Situation sei singulär und individuell:

Es gibt Analogien oder analoge Potenziale in der Geschichte, über die man reden kann, vielleicht auch Lehren aus der Geschichte, aber immer nur bis zu einem bestimmten Punkt. Die Gegenwart ist immer wieder das Neue, das muss man ganz klar sagen und insofern hat man sich auch dann mit dem Neuen immer wieder auf neue Art und Weise auseinanderzusetzen.

Prof. Andreas Wirsching, LMU-Forscher und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte
Prof. Andreas Wirsching, Quelle: Marc Müller

SUCHE NACH ORIENTIERUNG IN DER GESCHICHTE – VOR ALLEM IN KRISENZEITEN

Der Krieg in der Ukraine sorgt natürlich dafür, dass viele Menschen nach Einordnung oder zumindest nach Orientierung suchen. Auch Zadoff hat beobachtet, dass in einigen Medienberichten versucht wurde, sich auf Ereignisse in der europäischen Vergangenheit zu beziehen. So sei nach Beginn des Ukrainekriegs Putin in manchen Medien sogar als ‚neuer Hitler’ bezeichnet worden:

Ich glaube, es gibt ein großes Bedürfnis von Menschen, in den historischen Ereignissen ein Muster zu erkennen, das die Gegenwart erklärt. Das sie nicht 1:1 abbildet, aber das in irgendeiner Form hilft zu verstehen, was passiert, wenn man gerade nicht versteht, was passiert.

Dr. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München

IMMER WENIGER ZEITZEUG:INNEN FÜR DIE NS-ZEIT

Für historische Ereignisse wie zum Beispiel den Mauerfall und die Wiedervereinigung gibt es natürlich noch sehr viele Zeitzeug:innen. Für die NS-Zeit dagegen werden es altersbedingt immer weniger. Doch inzwischen gibt es neue technische Möglichkeiten. Interviews mit Zeitzeug:innen können nicht nur abgespeichert werden, sondern es ist mithilfe von Künstlicher Intelligenz mittlerweile auch möglich, an die Videos Fragen zu stellen. So können wir uns selbst mit bereits verstorbenen Zeitzeug:innen gewissermaßen unterhalten.

Doch laut Mirjam Zadoff sehen viele Kolleg:innen solche digitalen Zeitzeug:innen noch kritisch. Sofern solche Anwendungen jedoch ausreichend kontextualisiert werden, könnten sie eine hilfreiche Ergänzung bestehender Formate sein.

Gerade der Erinnerung an die NS-Verbrechen kommt laut Zadoff eine besondere Bedeutung zu – nicht zuletzt, um auf Kontinuitäten hinzuweisen. Doch die Geschichte rechtsextremer Gewalt in Deutschland seit 1945 werde erst seit zwei, drei Jahren umfassender erzählt:

„Eine Geschichte, die eine Kontinuität aus dem Nationalsozialismus bis in die letzten Terroranschläge hat – das ist ja ein unglaubliches Phänomen, dass das lange übersehen wurde, dass immer die gleichen Strategien zum Tragen kamen. […] Und beim NSU war es das gleiche, dass man gesagt hat, das war die Clankriminalität, anstatt dass man gesagt hat, da passiert doch was, da ist ein Muster.“

Dr. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in München
Dr. Mirjam Zadoff, Quelle: NS-Dokumentationszentrum München

GROßE VERANTWORTUNG IN EINER POSTNATIONALISTISCHEN GESELLSCHAFT

Es braucht laut Zadoff also mehr Bewusstsein für rechtsextreme Verbrechen – zumal wir in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft lebten. Schilderungen von Zeitzeug:innen seien auch deshalb so wertvoll, da Geschichte lange Zeit nur aus der Täterperspektive erzählt worden sei.

Auch Andreas Wirsching hält Zeitzeug:innen für sehr wichtig. Auch wenn Zeitzeug:innenberichte natürlich immer nur das subjektiv Erlebte wiedergeben könnten, sei deren entscheidende Leistung die atmosphärische Dichte – es wirke einfach anders auf uns, wenn jemand aus dem eigenen Erleben berichtet als wenn wir etwa ein Buch darüber lesen.

GESCHICHTSVERMITTLUNG AUCH OHNE ZEITZEUG:INNEN

Die Zeitzeug:innen der Verbrechen des NS-Regime wird es also in naher Zukunft nicht mehr geben. Doch so wichtig sie sind, laut Andreas Wirsching sind sie keine Grundvoraussetzung, um Geschichte zu vermitteln. Deren Authentizität könnte durchaus kompensiert werden, indem das Quellenspektrum – etwa durch digitale Vermittlung – verbreitert wird und die vorhandenen Quellen noch intensiver aufbereitet werden.

Diese Sorge, dass es keine Zeitzeugen mehr geben wird, würde ich niedriger hängen, sondern es fordert unsere Phantasie heraus, mit neuen Techniken und Methoden vieles zu erreichen.

Prof.Andreas Wirsching, LMU-Forscher und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte

Was nehmen wir also mit aus dieser vorerst letzten Ausgabe der LMU Science Talks? Erinnerungskultur ist kein starres Konzept. Geschichtswissenschaft und Gesellschaft müssen es permanent weiterentwickeln. Geschichte enthält zwar viele Potenziale, für die es in der Gegenwart Analogien gibt. Doch wir sollten immer bedenken, dass jede neue Herausforderung einzigartig ist.

Schließlich müssen wir damit umgehen lernen, dass leider auch Zeitzeugen für die Verbrechen der NS-Zeit nicht ewig leben werden. Folglich müssen wir neue Wege finden, an dieses düstere Kapitel der deutschen Geschichte zu erinnern.