Per Anhalter nach Belgien. Ein Reisebericht

Daumen raus!

/ / Bild: M94.5 / Jakob Arnu

Wer mal eine andere Art des Reisens ausprobieren will, Lust auf Abenteuer hat und noch dazu knapp bei Kasse ist, kann es mit Trampen versuchen. M94.5-Reporter Jakob Arnu hat das noch nie gemacht, weil seine Mutter ihm immer sagte, er solle nicht zu Fremden ins Auto steigen. Das sollte sich ändern, findet er. Und das, obwohl er die Horror-Storys über lüsterne LKW-Fahrer, Entführungen und Raubüberfälle kennt. Ein Protokoll einer Reise nach Brüssel. Per Anhalter.

So long, and thanks for the lift

Wir stecken fest. Ein einsamer Rastplatz, A6, irgendwo in Deutschland. Die Sonne zwingt uns in den Schatten. Unser Ziel: Luxemburg und von dort aus nach Brüssel. Eigentlich wären hier viele Autos, die uns per Anhalter mitnehmen könnten. Zumindest ein Stück zur nächsten Tanke.

Nein, nach Luxemburg würde man nicht fahren, man käme aus der Nähe, maximal fünf Kilometer die Autobahn weiter, dann müsse man runter, heißt es. Dazu verschämte Blicke. Hin und wieder verschwinden Männer Mitte vierzig stumm im Wald, für 20 Minuten oder länger.

Als dann nach drei Stunden ein braungebrannter Wohnmobilbesitzer mit Kamera inklusive riesigen Stativs sich zwischen die Bäume schleicht, werden wir auch unsere letzten Zweifel los: Das hier ist kein Ort zum Pause machen, sondern ein Sexparkplatz, wie man ihn aus Autobahnmythen kennt. Wildes Deutschland. Gibt es also auch.

Per Anhalter … in einem Galaxy

Etwa zwanzig Stunden davor. Aufbruch in München. Mein ältester Kindheitsfreund Lukas und ich wollen nach Brüssel. Unser Gepäck besteht aus Rucksack, Schlafsack, Isomatte und insgesamt vier Daumen. Er: Erfahrener Tramp-Profi. Ich: Totaler Grünschnabel auf dem Gebiet.

Wobei die Daumen kaum zum Einsatz kommen. Was nämlich viel besser funktioniert: Leute direkt ansprechen. Wir starten an einer Tanke, überfallen einen armen Autofahrer am Zapfhahn und haben Glück. Er nimmt uns direkt mit in seinem Galaxy, zweihundert Kilometer bis Stuttgart (auch ohne Handtuch). Kein schlechter Start: Die Welt kann auch freundlich. Das wäre Lektion 1 unseres Trips.

Unsere erste Mitfahrgelegenheit ist ein verrenteter Christ aus dem Schwarzwald. Mit ihm diskutieren wir zwei Stunden über Gott und die Welt. Eher über Gott als die Welt. Er erzählt uns – ohne dabei missionarisch zu werden – wie und warum er zum Glauben gefunden hat. Wir hören ihm zu, er hört uns zu. Andere Meinungen werden akzeptiert, Differenzen respektvoll besprochen. Wenn dich jemand für umsonst zweihundert Kilometer mitnimmt, dann ergibt sich das so.

Schnorren oder Teilen?

Am Abend auf der Raststätte. Dreihundert Kilometer in nur drei Stunden, zurückgelegt in drei Autos. Erschöpft liegen Lukas und ich auf einem Kinderspielplatz und schauen in die Sterne. Fast wie damals in der Grundschule, als wir hin und wieder draußen übernachtet haben. Ich ziehe Bilanz. Ich bin überrascht, wie unkompliziert wir losgekommen sind. Überrascht von der Freundlichkeit der Welt. Doch ich werde den Gedanken nicht los, ein Schnorrer zu sein.

Es ist ja nicht so, dass ich mir den Fernbus nicht leisten könnte. Trampen ist zwar sehr billig und das mag als Student ein wichtiger Punkt sein, aber die meisten halten den Daumen doch eher aus Lifestyle raus. Freiheit, Spontaneität, Offenheit, Vertrauen. Nur um einige Werte zu nennen, für die das Lebensgefühl des Trittbrettfahrens steht. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen, wenn mich jemand hunderte Kilometer durch Deutschland kutschiert und ich dann nicht mal Spritgeld gebe. Könnte ich nämlich. Aber das würde ja der Idee widersprechen.

Ich frage meinen Freund Lukas, wie er das sieht. Er habe zu Beginn seiner Daumenkarriere ähnliche Gedanken gehabt. Manchmal, wenn ein Fahrer ihn besonders weit mitnimmt oder sehr nett ist, dann lasse er ein paar Euro da. Aber: Die Anhalter wüssten ja, worauf sie sich einlassen. Wer niemanden für umsonst mitnehmen will, der nimmt auch niemanden für umsonst mit.

Tank halb voll, Tank halb leer

Ich würde mich grundsätzlich ja eher als Pessimisten bezeichnen. Aber das halte ich beim Trampen nicht lange durch. Um sechs Uhr in der Früh nach einer durchfrorenen Nacht auf dem Rastplatz von Motorengeräuschen geweckt werden – Wann hab ich zuletzt den Sonnenaufgang gesehen? Drei Stunden auf einem Sex-Parkplatz irgendwo in der Pampa in der Mittagshitze festsitzen – Wann habe ich mir das letzte mal Zeit zum Lesen in der Sonne genommen? Selbst in den hoffnungslosen Momenten schenkt der Zufall den glücklosesten Trampern eine Belohnung. Früher oder später hält jemand an und öffnet seine Autotür.

Auch schön: Mal aus der alltäglichen Filterblase fliehen. Bei hundertachtzig Sachen auf der Autobahn kannst du anderen Meinungen nicht entkommen, indem du einfach den Browser schließt. Schüchtern sollte man also nicht sein. Im besten Fall nehmen dich Menschen nicht aus Mitleid mit, sondern weil sie offen sind, neue Leute kennen lernen wollen, oder weil sie selber mal getrampt sind. Lektion 2 also: Konversation ist Pflicht. Daraus folgt auch gleich Lektion 3: Zu zweit trampen. Das ist nicht nur sicherer, sondern funktioniert auch besser und die Small-Talk-Arbeit kann aufgeteilt werden: Einer quatscht, der andere kann schlafen. Beim nächsten Auto dann umgekehrt.

Happy End

Am nächsten Tag lost auf dem … nun ja … Rastplatz mit „gewissen Vorzügen“. Gerade als wir die Hoffnung aufgegeben und uns mit einer Nacht an dem zwielichtigen Ort abgefunden haben, hält ein Auto mit belgischem Kennzeichen. Ja, man führe nach Luxemburg. Ja, man würde uns mitnehmen, es sei nur ein wenig eng. Glücksgefühle.

Die belgische Familie nimmt uns vom Sex-Treff bis nach Luxemburg mit und lässt uns vor einem Aldi am Stadtrand raus. Feiertag. Hunger. Wir suchen und finden. Ein malerischer Tennisplatz mit Park inklusive Restaurant und Steinofen. So gut schmeckt Pizza für schlanke vierzehn Euro normalerweise nur in Italien.

Dann der Glücksgriff der Reise. Auf dem Weg zur Autobahn hole ich mir Kaffee. Vor dem Café steht ein kleines Auto mit belgischem Kennzeichen. Darin ein junger Mann, wir fragen ihn direkt, ob er nach Belgien fahre und uns mitnehmen könne. Er fährt nicht nur Belgien, und auch nicht nur nach Brüssel – sein Ziel ist genau zwei Blocks von unserem entfernt.

Vierundzwanzig Stunden, tausend Kilometer, sieben Rückbänke, eine Nacht auf einem Raststättenspielplatz, einen Aufenthalt auf einem Sex-Parkplatz, unzählige Wälder und Felder und sehr viele Gespräche später erreichen wir endlich Brüssel. Alles blüht hier, die Stadt empfängt meinen besten Freund und mich mit einem Meer aus Weiß. Die letzten Tage fühlen sich an wie eine Woche.

Um ehrlich zu sein: Ich freue mich auf ein Bett. Eine Dusche. Auf die Heimreise im ICE. Bequem ist Reisen per Anhalter sicher nicht. Eingequetscht auf der Rückbank zwischen fremdem Gepäck, den dazugehörigen fremden Menschen und den eigenen Rucksäcken. Schlafplatz für die Nacht: Autobahnraststätte. Aber würde ich es wieder machen? Auf jeden Fall. Und das nächste mal, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin und zwei verzweifelte Menschen mit Rucksack auf einem zwielichtigen Parkplatz entdecke, dann weiß ich, wie ich die Welt sehr leicht zu einem besseren Ort machen kann.