Filmkritik

All of Us Strangers

/ / Bild: Disney

Der Protagonist von Andrew Haighs Fantasy-Romancefilm All of Us Strangers hat mit elf seine Eltern verloren. Als Erwachsener kämpft er hart mit diesem Verlust. Er verliert sich zwischen Zukunft und Vergangenheit, Liebe und Einsamkeit. Was von vielen als queerer Liebesfilm mit Andrew Scott und Paul Mescal erwartet wurde, ist ein komplexer Schlag in die Magengrube.

Adams Leben sieht ziemlich leer aus. Seine Freund:innen sind inzwischen alle weggezogen, raus aufs Land, haben Kinder. Und so bleibt er, ein schwuler Drehbuchautor, dargestellt von Andrew Scott, alleine in London zurück. Dort arbeitet er am Laptop, hängt in seiner Wohnung herum und versucht über seine Eltern zu schreiben. Er lebt in einem kafkaesk leeren, topmodernen Wohnkomplex, scheint keine Nachbarn zu haben und trifft sich mit niemandem. Das London des Films wird, wenn auch mit malerischen Aufnahmen von Sonnenuntergängen über der Skyline, meist komplett menschenleer gezeigt. Doch dann trifft er seinen scheinbar einzigen Nachbarn, gespielt von Paul Mescal, der ganz plötzlich vor Gebäude auftaucht. Harry ist jünger, charismatisch und sex-positiv. Nachdem er Adam eines abends ziemlich betrunken anbaggert, entwickelt sich schnell eine Beziehung zwischen den beiden.

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Trailer zu All of Us Strangers

Back to the 80s

Von der würde Adam eigentlich gerne seinen Eltern erzählen – wozu er ganz plötzlich sogar die Gelegenheit bekommt. Als er eines Tages zur Recherche zu seinem Elternhaus im Londoner Vorort Sanderstead fährt, trifft er in einem Eckladen einen eigenartigen ungefähr gleichaltrigen Mann. Der Mann nimmt ihn mit nach Hause zum Abendessen mit seiner Frau. Das Paar, nicht älter als er selbst, stellt sich als seine Eltern heraus, die in dem Vorstadthaus zu leben scheinen, keinen Tag älter, als sie zu ihrem Todeszeitpunkt waren. Während diese Beziehung für die Zuschauer:innen zuerst befremdlich aussieht, hinterfragen die drei Charaktere eigentlich nie, wie das sein kann, dass Eltern und Sohn gleichaltrig am Tisch sitzen. Zwischen den dreien entwickelt sich eine etwas unbeholfene aber liebevolle Beziehung.

Die Darsteller:innen der Eltern, Jamie Bell und Claire Foy, bringen die seltsame Dynamik sehr natürlich auf die Leinwand. Sie schaffen es, den Raum zwischen Tragik und Komödie komplett auszunutzen. Das Elternhaus scheint eine Zeitkapsel zu sein, unterstützt durch die detailreiche Setgestaltung, für die zahlreiche Dekorationen aus den 1980ern rekreiert und verwendet wurden. Die biedere, aber heimelig-zugestellte Einrichtung und das Vorstadt-Familienhaus ist ein Kontrastraum zu der modernen, kühlen Einsamkeit des Hochhauses. Diese Atmosphäre ist auch den Drehlocations geschuldet. Wie Regisseur Andrew Haigh in einem Behind-the-Scenes Special erklärt, ist die Wohnung ein nachgebautes Set, während der Dreh in Sanderstead in seinem echten Elternhaus stattfand.

“They say it’s a very lonely kind of life…”

Plötzlich die Eltern als Gleichaltrige kennenlernen – dieses Konzept hat der Regisseur aus einem Roman des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada, der auf Deutsch unter dem Titel Sommer mit Fremden erschienen ist. Beim Genre Fantasy-Romance würde man vielleicht zuerst an Twilight denken, hier ist der Fantasy-Aspekt allerdings viel subtiler. Auch im Roman entdeckt der Protagonist plötzlich, dass die jungen Versionen der verstorbenen Eltern in der Nähe wohnen. Andrew Haigh hat sich aber ansonsten vom Buch wegbewegt. Als schwuler Filmemacher wollte er einen Film über eine queere Lebensgeschichte machen – und bringt so eine neue Ebene in die Beziehung zwischen Adam und seine Eltern, die ihn ja nie als Erwachsenen kennengelernt haben. Als Adam seiner Mutter gegenüber erwähnt, dass er schwul ist, schaut die etwas verstört und fragt: „As in homosexual?“ und sagt weiter „They say it’s a very lonely kind of life“. Auch mit seinem Vater, einem sportlichen Typ Geburtsjahr wahrscheinlich zwischen 1945 und 1955, muss man erstmal drüber reden, ob Männer weinen oder die Beine übereinanderschlagen dürfen. Die Nostalgie des Elternhauses ist also erstmal einladend, aber keinenfalls blind.

Jamie Bell und Claire Foy als Adams Eltern/ Bild: Disney

Schön und schrecklich

All of Us Strangers ist ein komplexer, teilweise verwirrender Film. Kinogänger:innen, die alles genau verstehen wollen und ein klares Ende bevorzugen, sollten eher vorsichtig an den Film herangehen. Das Spiel zwischen Nostalgie und Realität ist aber hypnotisierend und sehr mitreißend. Alle vier Hauptdarsteller:innen ziehen das Publikum in ihren Bann, was bei einem Film, der im Kern von komplizierten menschlichen Beziehungen handelt, besonders zur Geltung kommt. Auch ästhetisch spricht All of Us Strangers mit Farben und Lichtern an und der Soundtrack untermalt das Ganze mit UK-Giganten wie Blur und Pet Shop Boys. Ein wunderbares Kinoerlebnis – der Film wurde auch bereits für 6 BAFTA-Awards nominiert. Es sollte aber betont werden, dass der er eben nicht nur die schönen Seiten des Lebens berührt, sondern auch die sehr dunklen. Tod und Suchtverhalten haben einen starken Einfluss auf die Handlung, das sollte Zuschauenden bewusst sein, bevor sie ins Kino gehen.

In Münchner Kinos kann man All of Us Strangers ab dem 08. 02. anschauen.