ESSAY

Grenzüberschreitungen im Reality-TV  

/ / Bild: Shutterstock / Prostock-studio

Jeden Tag erscheint aktuell eine neue Folge eines beliebigen Reality-TV-Formats. Das Verhalten der Darsteller:innen ist dabei nicht immer unproblematisch und bedarf einer Einordnung.

“Are you the one”, “Love Island”, “Temptation Island”, “der Bachelor”, “Dschungel Camp”, “das Sommerhaus”, “Bauer sucht Frau” und wie sie alle heißen – der Markt für Reality-TV-Formate boomt. 

Reality Formate begeistern über viele Generationen hinweg. Die Gründe dafür sind vielseitig.  

Die Anziehungskraft von Reality-TV 

Wie das Genre “Reality” schon sagt, geht es um das “echte Leben”, vor allem um Liebe, Freundschaft und Streit. Dinge, die uns alle – in welcher Form auch immer – betreffen. Wir erfahren von den Teilnehmer:innen private Details, die wir im echten Leben vielleicht nicht einmal über unsere besten Freund:innen wissen. Dadurch identifizieren wir uns als Zuschauer:innen oft mit den Teilnehmer:innen. 

Andererseits findet meist aber auch ein gewisser Abwärtsvergleich statt. Gerade bei Dating-Shows fühlen sich die Zuschauer:innen oft besser, wenn sie sehen, wie sich angehende Paare blamieren oder streiten. Dann kommen schnell Gedanken auf wie “also mein:e Partner:in würde so etwas ja nie tun”. Zuschauer:innen messen sich an dem Verhalten der Show-Teilnehmer:innen. Darin steckt auch ein voyeuristischer Aspekt, beinahe eine Art Schadenfreude, wenn die Teilnehmer:innen in prekäre Situationen geraten. 

Dieser Voyeurismus dient oft als eine Art escape from reality. Neben all den negativen Schlagzeilen über Krieg und Naturkatastrophen, suchen die Menschen “leichte Kost”, bei der sie entspannen und abschalten können. 

Bindungsgefühl zu Reality-TV-Darsteller:innen 

Der Überfluss an Reality-TV-Formaten führt auch dazu, dass es seit einigen Jahren quasi “hauptberufliche” Reality-TV-Darsteller:innen gibt, die regelmäßig in verschiedenen Formaten auftreten. Bei den Zuschauer:innen entsteht somit eine Bindung, die immer wieder mit denselben Personen auf dem Bildschirm konfrontiert werden. 

Zudem stärken Darsteller:innen durch ihren Social-Media-Auftritt dieses Bindungsgefühl. Auf Instagram oder TikTok können die Zuschauer:innen mit den Darsteller:innen einfach und direkt interagieren und sich über das Geschehen in den Formaten austauschen. Im Vergleich zu professionellen Schauspieler:innen erscheinen die Teilnehmer:innen von Reality-TV-Shows also deutlich nahbarer. 

Was in den TV-Formaten nur Show und was die echte Realität ist, ist für die Zuschauer:innen nur schwer differenzierbar. Nicht selten gehen aus Reality-TV-Formaten echte und teils auch langfristige Beziehungen hervor, was den TV-Shows einen noch realeren Touch verpasst. 

Grenzüberschreitende Szenen als Gefahr für Zuschauer:innen 

Dass sich Zuschauer:innen mit den Teilnehmer:innen identifizieren, wird vor allem dann zum Problem, wenn es um grenzüberschreitendes Verhalten geht. 

Ein solches Verhalten war erst vor kurzem wieder in der sechsten Folge der diesjährigen Staffel “Temptation Island VIP” auf RTL+ zu sehen. In einer Szene äußerte der Teilnehmer Aleksandar Petrovic gegenüber einem anderen Teilnehmer seine Empörung darüber, dass seine Verlobte Vanessa Nwattu am Tag der Verlobung nicht habe mit ihm schlafen wollen. 

«Ich habe mir so viel Mühe gegeben, es war wunderschön, die hat geweint, bla, bla, bla, alles emotional. An dem gleichen Tag, was zu dem Zeitpunkt der schönste Tag unseres Lebens war, wollte sie keinen Sex. Traurig Mann, so weit ist es gekommen.» 

Zitat: Aleksandar Petrovic

Nachdem der 34-Jährige seiner Frischverlobten geraten habe, ihre Entscheidung zu überdenken, kam diese eine halbe Stunde später wieder auf ihn zu.  

«Sie kam und wir hatten Sex, aber nur, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte.»

Zitat: Aleksandar Petrovic

Diese Form des Machtmissbrauchs wurde von RTL völlig unkommentiert veröffentlicht. 

Im besten Fall löst Petrovics Verhalten bei den Zuschauer:innen völliges Entsetzen aus und sie verurteilen ihn für diese Aussagen. Aber gerade bei Menschen mit geringerem Selbstwertgefühl könnte diese unkommentierte Botschaft genau das Gegenteil bewirken. Nämlich, dass sie denken, er liege richtig und sie müssten sich in einer vergleichbaren Situation dem Willen des Partners beugen. Oder männliche Zuschauer legen – durch ihn bestärkt – ab sofort ein vergleichbares Verhalten an den Tag. Zuschauer:innen identifizieren sich oftmals nicht nur mit den Darsteller:innen im Reality-TV, sondern projizieren deren Handeln sogar auf ihr eigenes Leben. Gerade jüngere Menschen sind dafür anfällig. Und wohin führt das alles im schlimmsten Fall? Zur Normalisierung eines solchen übergriffigen und erniedrigenden Verhaltens. 

Die Verantwortung, solche Szenen nicht zu veröffentlichen oder zumindest kritisch einzuordnen, tragen die Produktion und der Sender. Dieser Verantwortung wurde RTL+ nicht gerecht. 

Es ist schlimm genug, dass Männern mit einem solchen Rollenverständnis immer wieder eine Plattform geboten wird. Noch schlimmer aber ist es, wenn deren Verhalten unkommentiert bleibt und damit quasi legitimiert wird. 

Mittlerweile hat RTL als Reaktion auf die negative Kritik in den sozialen Medien eine Triggerwarnung bei der entsprechenden Folge eingebaut. 

«Wir verstehen, dass die Szenen in Folge sechs viele bewegen. ‹Temptation Island VIP› zeigt echte Emotionen und Beziehungen in Extremsituationen. Wie sich alles weiterentwickelt und kontextualisiert, wird bis zum Wiedersehen noch deutlich.»

Zitat: RTL

Grenzüberschreitende Szenen auch als Gefahr für die Teilnehmer:innen 

Grenzüberschreitungen im Reality-TV tangieren nicht nur die Zuschauer:innen, sondern natürlich auch andere betroffene Teilnehmer:innen der Formate. 

Nicht selten haben Auftritte in TV-Formaten “Shit-Storms” auf Social Media zur Folge. Zwar willigen die Teilnehmer:innen im Vorhinein darin ein, dass alle Aufnahmen im Fernsehen gezeigt werden dürfen, jedoch kann der Schnitt vieles verändert oder verstärkt darstellen. Gleichzeitig ist für die Teilnehmer:innen im Vorhinein nicht absehbar, wie sich andere Teilnehmer:innen vor der Kamera in ihrer Abwesenheit verhalten und äußern werden. Denn ein Drehbuch gibt es nicht. 

Natürlich sind es gerade die Grenzüberschreitungen, die solche Formate für Zuschauer:innen oft erst so richtig interessant machen. Das Entsetzen darüber, was die Teilnehmer:innen gerade so vor laufender Kamera sagen oder tun, ist genau das, was mit Reality-TV hervorgerufen werden möchte. 

Aber es gibt Grenzen. Diese sind dann überschritten, sobald die Szenen zu Lasten des Wohlbefindens anderer gehen und nicht mehr gefahrlos konsumiert werden können. 

Ein Text von Annika Engel