Buchkritik

Wann hast du dich das letzte Mal unsichtbar gefühlt?

/ / Bild: Jaya Mirani

“Selbst die freundlichsten Wörter – maiden, Magd, wife, Frau, mother, Mutter – erzählten aller Welt, ob wir noch Jungfrauen waren oder nicht.“ – Mit unseren Worten können wir Menschen diskriminieren. Jedoch ist Sprache an sich schon diskriminierend. Zumindest in der englischen Sprache gibt es kein männliches Pendant zu „Mrs.“, auch auf Deutsch kein Pendant zu „Hure“. Autorin Pip Williams entführt uns in die Welt der Wörter und erschafft eine Heldin, die durch Worte ihren Weg zum Feminismus findet.

Es ist Ende des 19. Jahrhunderts als Esme in Oxford geboren wird. Bei der Geburt kommt ihre Mutter ums Leben. Esme wächst daraufhin allein mit ihrem Vater Harry auf, der sie in die Welt der Wörter entführt. Er arbeitet im Scriptorium, einem Schuppen im Garten der Familie Murray. Hier entsteht ein Wörterbuch nach dem anderen, Buchstaben und Wörter sind die Welt der Arbeiter und dadurch auch von Esme. Denn von klein auf bringt Harry sie mit ins Scrippy. 

Die Affinität für Wörter und Sprache wird der Protagonistin also in die Wiege gelegt. Früh fängt sie an, Wörter für sich zu sammeln, aufzuschreiben und zu verstecken. Sie sind Esmes größter Schatz. Das erste aussortierte Wort, das Esme unter dem Wörtertisch im Scrippy findet, heißt bondmaid. Sie findet heraus, dass es leibeigene Magd bedeutet und teilt diese Erkenntnis mit Lizzy, die zum Hauspersonal der Murrays gehört. Lizzy erkennt sich selbst als solche, denn sie wird niemals heiraten können, zur Schule gehen und wird bis zu ihrem Lebensende bei der Familie arbeiten und wohnen.

Feminismus im 19. Jahrhundert

Als Esme älter ist und Lizzy auf den Markt begleitet, schnappt sie neue Wörter auf. Es sind Wörter, die es niemals ins Wörterbuch schaffen würden. Sie finden sich nicht in Büchern oder im Sprachgebrauch der Gelehrten. Sie kommen nicht aus der Welt der Männer der oberen Schicht. Esme wird klar, die Wörter die sie sammelt, sind die Lebensrealität der Frauen. Doch nicht nur die Sprache der Frauen ist für die Gelehrten und Wörterbuchherausbringer unsichtbar, auch in der Politik, in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz werden Frauen nicht gesehen. Nebencharaktere geben Esme neuen Input, mobilisieren sie dafür, für Frauenrechte zu kämpfen. Esme ist eine der wenigen, die die Unterdrückung der Frau ganzheitlich versteht und ihren Teil zu ihrer Beseitigung beitragen möchte- jedoch auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Eine starke weibliche Heldin

Esme ist eine wahre Heldin, die es schafft in schweren Zeiten für sich einzustehen, sich selbst in der Unterdrückung nicht verliert und schwere Schicksalsschläge überwinden kann. Dabei bleibt sie weiblich und ist nicht die stereotypische Feministin, die bloß männliche Attribute annimmt. Pip Williams schafft hier eine interessante, liebenswerte und charakterstarke Protagonistin, in die man sich beim Lesen nur verlieben kann. Eine starke Frau, eine liebende Mutter und Tochter, eine gute Freundin und eine selbstständige Arbeiterin mit einem scharfen Verstand. 

Coming-Of-Age als Frau

Die Sammlerin der verlorenen Wörter liest sich wie ein coming-of-age Roman, in dem das Erwachsenwerden und Lernen jedoch nicht mit dem 18. Geburtstag aufhört, sondern ein Leben lang fortschreitet. Oft wird suggeriert, dass man im jungen Alter ausgereift ist und wenig Veränderung noch bevorsteht. Das Buch zeigt: es ist niemals zu spät zu lernen. Coming-of-age Romane thematisieren selten das Erwachsenwerden als Frau. Doch nicht nur die Protagonistin macht Die Sammlerin der verlorenen Wörter besonders, auch das Setting, Oxford in der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist einzigartig. Das Buch macht Mut in jeder Hinsicht. Mut zur Veränderung, Mut zum für sich einstehen und Mut, man selbst zu bleiben.

Sensibel und mit Liebe zum Detail schildert Pip Williams das Leben von Esme. Trotz seinen 530 Seiten zieht sich das Lesen sehr selten. Tage nach dem Lesen finde ich mich in Gedanken immernoch in den Straßen Oxfords und in einem romantischen Gartenschuppen, in dem Wörter alles sind.

Die Sammlerin der verlorenen Wörter gibt es als Paperback für 22 Euro in der Buchhandlung eures Vertrauens zu kaufen.