M94.5 Filmkritik

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden

/ / Bild: David Herranz

Wie weit darf ein Film gehen? Eine Frage, die sich oft stellt, wenn man Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden anschaut. In dieser surrealen, bizarren und bitterbösen Komödie testet Regisseur Aritz Moreno die Grenzen des Geschichtenerzählens aus. Der in Spanien hochgelobte Film ist nun auch in Deutschland zu sehen.

Wollen sie meine Lebensgeschichte hören?“  Als der Psychologe Ángel (Ernesto Alterio) diese Frage der ihm gegenübersitzenden Helga (Pilar Castro) stellt, sagt sie bereitwillig ja. Eigentlich ein guter Zeitvertreib für die etwas langweilige Zugreise, auf der sie sich gerade befinden. Was dann folgt, hätte sich Helga aber nicht in ihren wildesten (Alb)träumen ausgemalt.

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Der Trailer zu Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden.

Geschichte in Geschichte in Geschichte

Wie eine Matroschka-Puppe packt Regisseur Aritz Moreno Geschichte aus Geschichte aus Geschichte heraus und spinnt sie alle zusammen zu einem bizarren, verwirrenden und auch faszinierenden Gesamtkunstwerk. Die Erzählungen von Angel und Helga nehmen den Zuschauer mit auf eine Reise in die tiefsten Abgründe der menschlichen Existenz: Kinderhandel bei Nato-Missionen, toxische Beziehungen, und die komplette Überwachung der Menschheit durch Müllmänner.

Moreno spielt viel mit Stereotypen, zeichnet die Gegenspieler als comic-hafte Bösewichte und kreiert verrückte Verschwörungstheoretiker, wie man sie in den tiefsten Tiefen des Internets kaum findet. Manchmal bleiben die Charaktere deshalb aber eher eindimensional und eingeschlossen in die auferlegten Klischees. 

Ángel (Ernesto Alterier) steht vor einem riesigen Berg von Müll. Bild: David Herranz

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden verwischt die Grenze zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Die Frage, ob das Gesehene jetzt wahr ist erscheint irgendwann komplett irrelevant. Der Durchblick ist sowieso schon längst verloren. Vielmehr geht es um die Glaubwürdigkeit selbst – also um das, was glaubwürdig scheint, und nicht das, was real ist. Moreno versucht dabei immer die Balance zwischen Absurdität und  Ernsthaftigkeit zu halten – leider nicht immer erfolgreich.

Was darf Film eigentlich?

Die existenziellen Abgründe im Film werden alle in mehr oder weniger albtraumhafte, surreale Geschichtsfolgen abgepackt, vollkommen überspitzt dargestellt und ad absurdum geführt. Das funktioniert je nach gerade angesprochener Thematik sehr gut oder eben gar nicht. In der wohl stärksten Episode wird eine Frau von ihrem Mann (wortwörtlich) zum Hund gemacht. Die Themen toxische Beziehungen und Unterwerfung werden hier scharfsinnig aufgegriffen.

Eine der ersten Geschichten aber, bei der es sich um Geldgier, Kapitalismus  und Kindesmissbrauch dreht, lässt einen bitteren Geschmack im Mund zurück. Kinder werden an Priester und hochrangige Beamte verkauft, um von ihnen in einem Kerker missbraucht und umgebracht zu werden. Hier stellt sich die Frage wie weit ein Film gehen darf. Gesellschaftliche Missstände aufdecken kann und muss auch „Aufgabe“ bzw. Funktion von Film sein, aber sensibler Umgang und vor allem genug Raum für ein solch schwieriges Thema sollte unbedingt bedacht werden. Der notwendige Raum für Entfaltung wurde in dieser Episode nicht wirklich gelassen. Leider ist eine Situation (im entferntesten Sinne) unumgänglich Teil unserer Realität. Trotzdem fühlt sie sich in diesem filmischen Kontext eher wie ein Schockfaktor an, dessen Resolution unter den Teppich gekehrt wird.

Absurd und überspitzt

An sich ist die Idee des Filmes, reale Missstände und Probleme durch Hyperbeln aufzudecken, aber wirksam – dem Zuschauer wird alles sehr bildlich, fast schon zu bildlich, vor Augen geführt. Moreno konfrontiert seine Charaktere und damit auch sein Publikum mit der eigenen, manchmal willentlichen Blindheit. Diese Konfrontation ist aber verstörend und oft ziemlich ekelig. Untermalt ist das ganze mit bitterbösem schwarzen Humor, bei dem einem das Lachen oft im Hals stecken bleibt. Die obskuren Geschichten des Zugreisenden ist polarisierend und auf jeden Fall nichts für schwache Mägen und Nerven. Insgesamt aber ein kurioser, irrsinniger und doch mitreißender Trip in die Abgründe der Menschheit.

Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden ist ab dem 20. August 2020 im Kino zu sehen.