Suizidprävention bei Google

Zwischen Hilfe und Diskriminierung

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Wenn aus Datensätzen Geschichten werden: Studierende im Master Journalismus haben kommunikationswissenschaftliche Forschung der LMU datenjournalistisch aufbereitet.

Der SPR – ein digitaler Lebensretter?

Lässt sich ein Selbstmord verhindern? Seit Goethes Werther fragt man sich, ob es Trigger gibt, die die Hürde zur Selbsttötung erhöhen. Im Jahr 2010 war es Google, das eine solche Hürde für suizidgefährdete Menschen schaffen wollte. Wer nach Keywords sucht, die mit Suizid zu tun haben, dem zeigt Google die Hotline der Telefonseelsorge an. Doch eine Studie der Universität Leuven und der Ludwig-Maximilians-Universität in München (LMU) hat herausgefunden, dass das in verschiedenen Ländern und Sprachen unterschiedlich gut funktioniert. Ist Google das Leben einiger Menschen also wichtiger als das anderer? Genauer: Ist das Leben eines Amerikaners in den virtuellen Augen Googles mehr wert als das eines Inders oder Deutschen?

Zuerst erschien das “Suicide Prevention Result” (SPR) in den USA. Danach wurde es in 13 weiteren Ländern, darunter auch in Deutschland, implementiert. Doch die Expansion ging nicht einher mit einer gleichmäßigen Qualität. Das SPR wird nicht überall mit der gleichen Wahrscheinlichkeit angezeigt. Dabei kann es Leben retten.

Die Selbstmordrate der USA und Deutschland im Vergleich bis 2015. Für Deutschland liegen bis heute keine aktuelleren Daten vor. Trotzdem erkennt man eine Tendenz.

Der Psychologe Georg Fiedler vom Nationalen Suizidpräventionsprogramm beschäftigt sich regelmäßig damit. „Menschen, die Suizidgedanken haben, wollen sich meistens nicht umbringen. Sie sehen nur keinen Ausweg aus einer sie belastenden Situation. Hilft man ihnen, diese Zeit zu überwinden, verschwindet das Suizidrisiko oder wird zumindest vermindert“, sagt er. „Eine kurze Info hilft manchmal schon.“

Kostet der Digital Divide Menschenleben?

In insgesamt elf Ländern und in acht Sprachen stellten die Forscher Sebastian Scherr, Mario Haim und Florian Arendt automatisierte Suchanfragen zum Thema Suizid. Das Ergebnis: In englischsprachigen Ländern funktioniert das SPR in über 90 Prozent der Fälle, während es in Deutschland lediglich in 22 Prozent der Fälle anspringt. In anderen Ländern und Sprachen erzielt das Feature sogar noch schlechtere Ergebnisse.

In Indien, das die Wissenschaftler ebenfalls untersucht und hier auch nach verschiedenen Sprachen unterschieden haben, ist das Problem noch größer – dabei ist der Digital Divide in den entlegenen Regionen des Schwellenlandes ohnehin bereits ein Problem. Der Digital Divide bedeutet, dass die Digitalisierung in verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich schnell voranschreitet. Es bedeutet aber auch, dass nicht alle Regionen dieselbe Infrastruktur zur Verfügung gestellt bekommen. Unternehmen mit privatwirtschaftlichem Interesse sehen es also als wichtiger an, ökonomisch stärkere Regionen mehr zu fördern als schwächere.

Das SPR erscheint in den USA in über 91 Prozent der Fälle, bei denen jemand nach Key Words sucht, die Google mit einer Suizidabsicht verbindet. In Deutschland sind es derweil lediglich knapp über 22 Prozent.

Hat Google kein Interesse?

Georg Fiedler bietet einen anderen Erklärungsversuch für die unterschiedlich gute Funktionalität der SPRs: „In den USA gibt es große Lobbyorganisationen von Hinterbliebenen. Die wirken in die Politik hinein“, sagt er. Die Suizidrate liegt hier bei 13,7 je 100.000 Einwohner, in Deutschland ist sie mit 13 je 100.000 Einwohner unbedeutend kleiner. Trotzdem: Steht Google in den USA einfach stärker unter Druck?

Mario Haim erkennt ebenfalls ein Problem darin: “Es ist verstörend, dass dieses weltweite Toll nicht überall gleich gehandhabt wird.” Seiner Meinung nach sollte Google hier enger mit der Wissenschaft zusammenarbeiten, weil diese durchaus in der Lage sei, das SPR weiterzuentwickeln. Google aber sei sehr verschlossen, seine Forderung deshalb: “Google sollte kooperativer werden.”

Alphabet, Googles Mutterkonzern, selbst äußert sich nicht zu der Diskrepanz, doch die Studie von Scherr, Haim und Arendt bietet einen zusätzlichen Ansatz, um die Gründe für das Problem zu verstehen: Auf der einen Seite führten Tech-Firmen wie Alphabet gerne gemeinnützige Algorithmen wie den SPR ein. Sie wollten so zeigen, dass sie gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Hierbei gehe es jedoch um PR. Nach der Veröffentlichung lohne sich eine Verbesserung also nicht mehr.

Warum scheint Google nicht zu wollen?

Denn zur Verbesserung eines solchen Algorithmus braucht es sensible Nutzerdaten. Die IT-Riesen des Silicon Valley stehen aber ohnehin schon unter besonderer Beobachtung, wenn es um Fragen des Datenschutzes geht. Der Nutzen der Weiterentwicklung ist für Google also geringer als das Risiko für den unsachgemäßen Umgang mit Nutzerdaten kritisiert zu werden.

Auch Machine Learning ist in diesem Fall keine geeignete Lösung. Zum einen werden auch hier Nutzerdaten benötigt, zum anderen besteht die Gefahr, dass sich dadurch landesspezifische Unterschiede im Algorithmus weiterhin vergrößern. Die Blöße wolle man sich also nicht geben.

Es ist allerdings nicht so, dass Google seine SPRs gar nicht weiterentwickelt. Seit August 2018 ist das Feature auch in den Google Assistant integriert. Wer also sein Handy fragt, wie die “beste Methode für Selbstmord” laute, dem schlägt der Google Assistant ebenfalls vor, die Telefonseelsorge zu kontaktieren.

Das SPR funktioniert

Astrid Fischer von der Telefonseelsorge hat keine Daten zu dem Angebot, weiß aber, dass Google sie bereits 2017 kontaktierte, um ihre Expertise dafür zu nutzen, das Tool auch über die Sprachsteuerung laufen zu lassen. “Ich habe keine konkreten Zahlen dafür, meine aber, dass seither mehr Anrufe bei uns eingegangen sind.” Es scheint also, als erziele das SPR den Zweck, wegen dessen es eingeführt wurde.

Am Ende bleibt das aber Spekulation. Presseanfragen an Google Deutschland werden von einer PR-Agentur bearbeitet, die verspricht, dass man sich “so bald wie möglich zurückmelden” werde, was aber nicht geschieht.

So unbestritten sinnvoll der SPR also sein mag, es bleibt ein ungutes Gefühl zurück. Der Global Digital Divide ist gerade in Zeiten der immer schneller Voranschreitenden Digitalisierung ein immer größer werdendes Problem. Dieser Divide zeigt sich exemplarisch an den Google SPRs. Denn gerade wenn es um das Leben von Menschen oder, weniger dramatisch, zumindest deren geistige Gesundheit geht, dürften Sprache oder Region keine Rolle spielen.