Dance 2019

Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren

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In München wurde vom 16. bis 26. Mai 2019 getanzt. In der Stadt hat nämlich das 16. DANCE Festival stattgefunden . Mehr als 120 deutsche und internationale Künstler haben in rund 50 Vorstellungen zeitgenössischen Tanz in seiner ganzen Vielfalt dargestellt. Die M94.5 Kulturredaktion hat sich viele davon angeschaut und präsentiert ihre Highlights aus 10 Tagen Tanz.

Fúria: Lia Rodrigues

In einem Haufen aus Plastikplanen, Stoffresten und Müll liegen menschliche Körper. Sie rühren sich nicht. Erst als leise Trommeln einsetzen, schälen sich allmählich Menschen aus dem Haufen. Manche tragen Klamotten, die als Fetzen herunterhängen, andere sind mit blauer oder goldener Farbe bemalt. Mit langsamen Bewegungen beginnen sie eine Art Prozession um die Bühne herum. Die Blicke sind stolz und fest, die Körperhaltungen ausdrucksstark. Im Laufe des Abends werden viele Themen mittels des Körpers verhandelt: die Tänzer*innen, die in Maré, einer der größten Favelas von Rio de Janeiro, arbeiten, stellen auf eindringliche, energetische Weise Macht, Gewalt, Rassismus und Kolonialismus dar. Aber auch Befreiung, Sexualität und Freude finden in der Choreografie von Lia Rodrigues Ausdruck. In prägnanten Bildern schafft es das Ensemble gesellschaftliche und politische Missstände aufzuzeigen und entwickelt dabei eine hypnotische Kraft, bei der man nicht wegschauen kann. Aufrüttelnd, fesselnd, stark. jrl

© Sammi Landweer

Crowd: Gisèle Vienne

Der Boden der Bühne ist erdbedeckt, übersäht mit leeren Bierdosen und Plastiktüten. Schneller rhythmischer Techno pulsiert durch den Raum. 15 PerformerInnen bewegen sich entgegen des Rhythmus in Zeitlupe auf die Bühne. Sie fügen sich zu einer Menge zusammen, stoßen sich gegenseitig an und ab, wie Magneten – ein menschlicher Organismus entsteht. “Crowd” nimmt das Publikum mit in die Rave-Szene, zurück zu der Techno-Kultur der 90er, der Choreographin Gisèle Vienne selbst angehört hat. Ohne ein Wort zu sprechen erzählen die PerformerInnen mit ihren Körpern Geschichten von Liebe, Sex und Gewalt. Sie isolieren sich von der Menge und tauchen wieder ein, bewegen sich mal schnell, mal langsam, abgehackt und fließend. Inspiriert wurde Vienne von Pina Bausch “Frühlingsopfer” und inszeniert den Rave als eine Art Tanzritual. Es entsteht eine hypnotische, mystisch anmutende Tanzperformance, die den Zuschauer mitzieht und nicht mehr loslässt. jm

© Dieter Hartwig

Dance History Tour:
Brygida Ochaim / Thomas Betz

Die Dance History Tour gewährt einen Einblick in die Geschichte des freien Tanzes in München. Man könnte sagen es handelt sich dabei um eine Stadtführung mit einem sehr spezifischen Schwerpunkt. Doch nicht nur die Fortbewegungsweise auf dem Fahrrad macht die Tour zu etwas Besonderen. Verborgen hinter Häuserfassaden, an denen Münchner*innen schon unzählige Male vorbeigefahren sind, liegen die Schicksale und Träume von jungen Tänzer*innen vergangener Jahrzehnte verborgen. Mutig, skandalös, radikal anders. So werden die Porträts der historischen Protagonist*innen während der Dance History Tour gezeichnet. Diese drei Stunden lange Tour, die durch den historischen Stadtkern Münchens führt und historische Bilder mit den besuchten Orten verknüpft, ist selbst Unwissenden auf dem Gebiet nur zu empfehlen. mk

© Brygida Ochaim

Les 24 Préludes de Chopin // Henri Michaux: Mouvements: Marie Chouinard

Den beiden Choreographien Les 24 Préludes de Chopin und Henri Michaux: Mouvements von Marie Chouinard ist – so verschieden sie inszeniert sind und so viele Jahre zwischen 1999 und 2011 stehen – eines gemein: ihre beeindruckende Intermedialität. In der Auseinandersetzung mit Chopins Klaviermusik und Henri Michaux’s Malerei zeigt Chouinard, dass Tanz nicht nur expressiver Ausdruck, sondern auch Erkenntnismedium sein kann. Ob sich die Körper zu den Wogen der Musik oder den dynamischen schwarzen Tuscheklecksen bewegen, sie tanzen das, was wir bei Chopin oder Michaux fühlen und für dessen Beschreibung Sprache oft nicht ausreicht. Chouniards Choreographien erscheinen als etwas dazwischen und ergreifen den Zuschauer tief und urtümlich. sf

© Sylvie Ann Paré

BetweenTheDotsBeta: Peter Trosztmer / Zack Settel / Osman Zeki

Virtual Reality (VR) ist bei Computerspielen inzwischen nicht nur relativ einfach möglich, sondern findet sich bereits in weit mehr Privathaushalten als man denkt. Augmented Reality (AR) hingegen ist definitiv etwas Besonderes, was nicht so einfach möglich ist. Der Unterschied zwischen VR und AR liegt darin, dass man bei VR eine Brille nutzt, die eine komplett neue Welt um den Benutzer herum schafft. Bei AR werden neue, nicht reale Elemente und Effekte in die reale Welt hineingesetzt und sind nur per Brille oder ein anderes Medium sichtbar. Und diese Augmented Reality haben die Macher von „BetweenTheDotsBeta“ genutzt, um eine komplett neue und einzigartige Tanzperformance zu erschaffen, die den Zuschauer fasziniert und sogar involviert. Jeder Zuschauer wird mit Handy und Kopfhörern ausgestattet und sieht dann durch die Handykamera, was er normalerweise nicht sehen kann. Der kanadische Choreograf und Tänzer Peter Trosztmer tanzt durch den Raum. Für das bloße Auge nichts besonderes – bis man durch die Handykamera schaut. Auf dem Bildschirm sind Lichter zu sehen, neonfarbige Lichtlinien und -punkte fliegen durch den Raum, tanzen um Trosztmer herum und mit ihm mit. Dann fordert der Tänzer das Publikum auf, sich selbst durch den Raum zu bewegen – und die Zuschauer bilden selbst neue Lichter und Geräusche, die nur durch die Kamera und die Kopfhörer sichtbar und hörbar werden. Ein Erlebnis, dass noch in der Beta steckt und somit noch unfassbar viel Potential birgt… für noch ausgefallenere Arten Tanz zu erleben. jrt

© Peter Trosztmer