Underdox 2022

Kino anders gedacht

/ / © Harald Vogl, Dear Jimmy, Courtesy The Museum of Modern Art, New York/ Underdox

Ideen für ein “anderes Kino” präsentieren – diese Aufgabe verfolgt das Underdox schon seit 2006. Auch dieses Jahr könnt ihr dort wieder allerlei Dokumentar- und Experimentalfilme von fast allen Kontinenten entdecken. Die M94.5 Kinoredaktion hat sich schon vorab durch das Programm geschaut und stellt euch einige Filme vor.

EL SEMBRADOR DE ESTRELLAS 

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Clip aus El Sembrador de Estrellas

Zu sehen ist in den 25 Minuten des Filmes eigentlich nur ein Motiv: Tokio bei Nacht. Die Bilder der Metropole sind aber von der ersten Sekunde an fesselnd, evokativ. Die Zuschauer:innen sitzen über weite Teile des Films in Stille, alleine gelassen mit den Geräuschen einer nächtlichen Stadt und dem ständigen Schwappen von Wasser. Aber dann, ab und zu, erzählt ein Dialog zwischen zwei körperlosen Stimmen eine Geschichte. Keine konkrete Geschichte, eher etwas, was Fetzen von nächtlichen Gedanken ähnelt. “What a quiet water. How cold it is. / You haven’t touched it yet.” Aber das Zusammenspiel zwischen Bild und Ton hat eine große Wirkung, ist beinahe meditativ. Es ist ein Erlebnis, das zeigt, was Film als Medium für eine berührende Wirkung haben kann. sw

À Vendredi, Robinson

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Trailer zu À Vendredi, Robinson

Jean-Luc Godard und Ebrahim Golestan: zwei Filmemacher im Ruhestand – oder im Fall von Godard, kürzlich verstorbener Regisseur. Neben ihrem hohen Alter und der Liebe zum Film verbindet die beiden eine Brieffreundschaft. Die Dokumentation À vendredi, Robinson zeigt über deutlich zu lange 90 Minuten den intellektuellen Austausch der beiden. Diese ist jedoch nicht immer interessant, gerade weil sich einige Elemente im Film wiederholen. Etwa wenn Golestan immer wieder mit Unverständnis auf die E-Mails und Videoclips reagiert, die ihm Godard zuschickt. Alle die, die den berühmten Regisseur kennen, können dabei nur schmunzeln, da Jean-Luc Godard dabei ganz in seinem Element ist. Nichts muss Sinn machen – gerade für ihn und erst recht nicht im Alter, in dem sich der alte Herr den ein oder anderen Spaß erlaubt. Besonders macht die Doku aber gerade die unmittelbare Nahbarkeit: Neben den Briefen können die Zuschauer:innen die beiden Regisseure so privat wie nie sehen, zum Beispiel beim Morgenspaziergang oder im Krankenhaus. Begeistern oder fesseln kann das aber nicht immer, gerade weil Godard beim Wäsche aufhängen zuzusehen eher anstrengend als anregend ist. Eine gewisse Faszination besitzt À vendredi, Robinson aber durchaus, zumindest für Fans der beiden Regisseure. dr

Berlin JWD

Bild: Bernhard Sallmann/ Underdox

Berlin JWD – Janz weit draußen. Das steht zum einen für einen Ort, aber auch für ein Gefühl. Berlin befindet sich, wie viele andere Großstädte, im Wachstum. Kann es ein „janz weit draußen“, der deutschen Hauptstadt also überhaupt geben? Mit Bildern, die in normalen Spielfilmen nur als Schnittmaterial verwendet werden, zeigt der Beobachtungs-Arrangeur Bernhard Sallmann, das Gesicht einer Stadt, das wir so nie zu Gesicht bekommen. Die Orte erzählen die Geschichte des Films, denn Handlung und Sprache gibt es hier nicht. Allen, die Berlin JWD anschauen, muss bewusst sein, dass es sich hier um einen Film handelt, der nur beobachtet und keine Geschichte verfolgt. Das Gezeigte wirkt dabei zum einen unvergleichbar beruhigend, zum anderen jedoch auch erschreckend. Denn unweigerlich ist klar, dass die Urbanisierung vor keinem Stück Natur Halt macht. Ein Entkommen aus der Zivilisation ist eigentlich kaum möglich. Ein zugleich bedrückendes, aber auch befreiendes Gefühl. Denn es wird auch klar, an wie viele Plätze in einer Stadt ein kurzer Rückzug möglich ist. Das ist die Faszination des „Urban exploring“ die Berlin JWD mit seiner Beobachtung von Orten vermittelt. ml

A Night of Knowing Nothing

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Trailer zu A Night of Knowing Nothing

Polizeigewalt, Korruption, das immer noch bestehende Kastensystem – das und noch viel mehr sind die Probleme unter denen die Menschen in Indien zu leiden haben. A Night of Knowing Nothing macht es sich zur Aufgabe, das moderne Indien zu zeigen. Allerdings nähert sich der Dokumentarfilm alldem auf untypische Weise an: Vorgelesene Liebesbriefe – gefunden in einer Box im Film and Television Institute of India bilden die Rahmenhandlung zur Doku. Fernab von Bollywoodromantik erzählt die Doku also gleichzeitig eine vielleicht fiktive, aber in jedem Fall tragische Liebesgeschichte, die durch das starre Kastensystem verhindert wird.  

Die vorgelesenen Briefe schaffen so mit ihrer Autorin L. eine Identifikationsfigur. Ihre poetisch vorgetragenen Briefpassagen sind meist mit grobkörnigen Schwarzweißbildern unterlegt, welche die Trostlosigkeit der Situationen noch einmal untermauern. Die Zuschauenden tauchen also auf betont subjektiver Ebene nach und nach in die Probleme Indiens ein und sind nicht nur distanzierte Beobachter.  Hier liegt der Fokus ganz klar mehr auf einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema als auf reiner nacherzählender Berichterstattung. Eine ungewöhnliche Dokumentation also, die gerade deswegen umso mehr berührt. tf

Das Underdox findet vom 6. bis zum 12. Oktober 2022 im Filmmuseum und Werkstattkino statt. Tickets kosten pro Film 7 Euro oder für fünf Filme 30 Euro.