radikal jung 2019

Radikal bunt

/ / Bild: Volkstheater München

Chefdramaturg und Kurator des diesjährigen Radikal Jung Festivals Kilian Engels war zu Beginn des Festivals bei uns im Studio. Er ist seit Anfang des Festivals vor 15 Jahren dabei und hat uns spannende Einblicke in dessen Entwicklung und die diesjährigen Inszenierungen gegeben.

Zum 15. Mal hat das Festival für junge Regie im Volkstheater stattgefunden. Vom 27.04 bis zum 05.05. waren 15 Inszenierungen von 14 Frauen und fünf Männern aus aller Welt zu sehen. Das Festival gibt einer neuen und jungen Generation an TheaterregisseurInnen eine Bühne, um ihre Inszenierungen zu zeigen. Die M94.5 Kulturredaktion hat sich alle Stücke angesehen und  stellt ihre persönlichen Highlights vor.

“Dritte Republik” (UA) – Elsa-Sophie Jach

Eine Landvermesserin zieht mit einem schweren Koffer voller Messinstrumente durch Sturm und Nebel. Sie soll die Grenzen Österreichs nach Ende des 1. Weltkriegs neu bestimmen. Auf ihrem Weg trifft sie merkwürdige Gestalten, allesamt vom Krieg versehrt, müde, frustriert. Sie philosophieren über ihre Situation, mal zynisch, mal hysterisch, mal laut, mal leise. Thomas Köck und Elsa-Sophie Jach greifen für ihr Stück auf verschiedene literarische Quellen zurück und entwerfen mit ihrem Textgeflecht eine breite Assoziationsfläche, auf der Fragen nach Grenzen und Nationen, nach Herrschaft und Demokratie und danach, wie wir in einer Gesellschaft leben wollen, verhandelt werden. Ein nachdenkliches Stück, das trotz älterer Texte hochaktuell ist. jr

„White [Ariane]“ (UA) – Ariah Lester

Spätestens am letzten Wochenende des radikal jung Festivals fängt man als Zuschauer an, Stücke in Schubladen zu packen: stark – ok – schwach. Das sind die Kategorien, mit denen die Inszenierungen vom Publikum am Ende jeder Vorstellung bewertet werden. Nun. Wie finde ich White [Ariane]? Ganz lange schwankt meine Empfindung zwischen extrem scheiße und wahnsinnig genial. Am Ende des Stückes muss ich mich einfach ganz klar entscheiden für: wahnsinnig genial. Ariah Lester präsentiert an diesem Abend ein Stück, das sich wirklich nur ganz schwer in eine Schublade packen lässt. Mit kalkweiß geschminktem Gesicht, seinen Lack-Overknees und dem aufgebauschten Rüschen-Bolero sieht Ariah Lester aus wie eine Mischung aus Barock-Gespenst und Domina. Er singt sphärische Popsongs. Er erzählt davon, dass seine Mutter eigentlich wollte, dass er ein Mädchen wird. Er verteilt im Publikum eine indifferente, geleeartige Masse, die gleich dem Leib Christi seinen Körper darstellen soll, den er mit den Zuschauern teilt. Und dann gibt es auch noch eine perfekt zur Stimmung passende, beeindruckende Light-Show. Müsste man den Abend in drei Worten zusammenfassen, wären das: unglaublich + unvorhersehbar + überraschend. saf

Gewinner des Publikumspreises

“Die Hauptstadt” (ÖE) – Lucia Bieler

Die Hauptstadt, von Regisseurin Lucia Bihler, inszeniert den aktuellen und vor allem hoch kritischen Zustand der Europäischen Union. Besonders die schauspielerische Leistung überzeugt dabei: wie Puppen eines Gruselkabinetts bewegen sich die Darsteller über die Bühne und scheinen dabei teilweise von einer fernen Kraft gelenkt zu werden. Die Hauptstadt polarisiert vor allem durch die Idee, Auschwitz als Zentrum und Neuanfang der EU zu etablieren. Die Nachricht ist klar: es muss sich etwas ändern. Und das könnte schon mit der Europawahl am 26. Mai passieren. ap

“Amsterdam” (DSE) – Sapir Heller

Und dann macht sich die Eigenproduktion doch auch wirklich gut! Nämlich das von der israelischen Dramaturgin Maya Arad Yasur geschriebene und von Sapir Heller am Volkstheater inszenierte Amsterdam. Ein Stück über Geschichte und die Art, wie man Geschichte erzählen kann, oder besser sollte, oder eher nicht sollte, aber doch könnte. Auf der Spurensuche einer ominösen Gasrechnung von 1944, die eines Morgens unter der Türe einer jungen israelischen Violonistin in Amsterdam durchgeschoben wird, entspannt sich die Geschichte rund um den Widerstand in Amsterdam während der Nazizeit. Bis heute stellt sich die Frage: Wer hat denn nun für das Gas zu zahlen? Das Motiv ist natürlich wohlbedacht. So auch die Art des Erzählens: drei physisch und sprachlich absolut präsente Schauspieler spekulieren und rekonstruieren, wie es vielleicht damals abgelaufen ist und konfrontieren den Zuschauer vor allem mit einem: den eigenen unreflektierten Wissensbeständen und Stereotypen der Geschichtsaufarbeitung. Mit einem minimalistischen Bühnenbild, aber einer durchdachten dramaturgischen und inszenatorischen Handschrift, zeigt Amsterdam, das Geschichte noch lange nicht bewältigt ist, nur weil sie jeder glaubt zu wissen und erzählen zu können. sf

 Gewinner des Kritikerpreis von den Studierenden der Kulturktritik an der August Everding Akademie / HFF München.