Buchkritik

Erzähl’s nicht deinem Bruder

/ / Meir Shalev Erzähl's nicht deinem Bruder © Diogenes

“Erzähls nicht deinem Bruder” ist das letzte Buch von Meir Shalev, dem israelischen Autor und Journalisten, der im April 2023 gestorben ist. Der Roman konzentriert sich auf eine einzige Nacht. Einmal im Jahr treffen sich die Brüder Itamar und Boas in Israel. Sie trinken zusammen und erzählen sich bis Sonnenaufgang von ihrem Leben. Shalev zeigt wie unerträglich Figuren in ihrem eigenen Verhalten werden können, bis die Leserschaft beinahe geneigt ist, die Zeilen und Seiten aus Frust anzuschreien.

Ich liebe das Leben ruhig, das Krumme gerade und die Wellen flach. Aber als ich etwas größer wurde, bekam der Name “Itta” den unerträglichen Zusatz “der Schöne”. […] und wer es in meiner Anwesenheit tut, will mich provozieren oder sehen, wie ich meinen Ärger bezwinge, verlegen und beherrscht.

Erzähl’s nicht deinem Bruder / Meir Shalev

Das schöne Problem

Leider ist es wahrlich kein Genuss, dieses Buch zu lesen, denn der erzählende Hauptcharakter Itamar hat ein großes Ärgernis: Itamar ist schön. Er ist so schön, dass ihn seine Umwelt nur auf sein Äußeres reduziert. Eigentlich wäre hier ein guter Ansatz, um mitfühlend die wirklichen Tiefen einer missverstandenen Figur zu ergründen. Aber Itamar möchte nicht. Er ist überzeugt, dass seine Schönheit wirklich das Herausragendste an ihm ist. Dieser jammernde Unwille, in sich selbst zu blicken und auch der Leserschaft jeglichen Blick in die Tiefe zu versperren, macht das Lesen mühsam.

Betrunkene Familienbande

Itamar und sein jüngerer Bruder Boas treffen sich einmal im Jahr um ihre Probleme miteinander zu ergründen und im Verlauf des Abends im Alkohol zu ertränken. Die beiden befinden sich bereits im Herbst ihres Lebens, doch der endlose Konflikt ihrer verstorbenen Eltern ist meistens das bevorzugte Thema der kleinen Runde. Die Gespräche wirken deshalb auch wiederholt und durchgekaut. Es kommt das Gefühl auf, wirklich zum hundertsten Mal über den gleichen, unlösbaren Makel zu diskutieren. Überraschenderweise sind die Worte trotz allem scharf und durchdacht, obwohl den Brüder schnell der Alkohol zu Kopf steigt und das Laufen schwer fällt.

Das reizvolle Geheimnis

Erfreulicherweise hat sich Itamar in dieser Nacht entschieden, seinem Bruder von einer Nacht mit einer geheimnisvollen Frau zu erzählen. Die Geschichte wirkt frisch und lebt so in der Brudernacht wieder auf, obwohl sie 20 Jahre her ist. Die Art wie Shalev seine Figuren sprechen lässt, führt dazu, dass die beiden Nächte ineinander verschwimmen. Die Erinnerung wird so stark erlebbar gemacht und manchmal ist es fast so, als säßen da drei Personen zusammen. Die weibliche Figur ist es auch, deren frecher und zum Teil diabolischer Charakter das Geschehen am Leben erhält.

Genüssliche Tortur

Die Geschichte dringt bis in die Spitzen der Nerven vor. Es ist kein einfaches Unterfangen, diesen Roman zu lesen. Doch auch die heftigen Trotzreaktionen, die dadurch ausgelöst werden, haben etwas Lösendes im Schluss. Unterdrückte Emotionen müssen wohl manchmal mit Gewalt hervorgebracht werden.

Erzähl’s nicht deinem Bruder von Meir Shalev ist im Diogenes Verlag erschienen. Wer israelische Literatur und Familiengeschichten schätzt, sollte diese Geschichte lesen. Das Buch ist momentan für 25 Euro erhältlich.