Coronakrise

Das Risiko der Anderen

/ / Bild: Privat / Maria

Die Bundesregierung sorgt weiter für die Aufnahme von Covid-19-Patienten in Krankenhäusern vor. Aber was ist mit Patienten, die schon vor Corona auf Mundschutz und Beatmungsgerät angewiesen waren? Viele von ihnen trifft die Krise auf ganz andere Weise.

Leben am Beatmungsgerät

Mit 30 Jahren wird bei Pia* Amyotrophe Lateralsklerose (kurz ALS) diagnostiziert. Plötzlich kann sie nicht mehr richtig laufen, ihre Muskeln sterben langsam ab. Heute ist sie 45 Jahre alt, bis zum Hals gelähmt, Mutter zweier Jugendlicher und an ein Beatmungsgerät angeschlossen.

Pia möchte zusammen mit der Krankheit, die ihr Leben veränderte, nicht mit ihrem richtigen Namen im Internet auftauchen, weshalb sie und ihr Pflegepersonal anonymisiert wurden.

Das Gerät, dem Pia „sieben Jahre ihres Lebens“ verdankt, steht bei ihr zu Hause und muss aus Hygienegründen einmal in der Woche einem so genannten Systemwechsel unterzogen werden. Das heißt konkret: “Spezialisierte Pflegekräfte wechseln Beatmungsschläuche und Filter”, erklärt Krankenschwester Maria, die Pia seit fünf Jahren in deren Haus pflegt und die Systemwechsel vornimmt. Ohne den regelmäßigen Wechsel der Medizintechnik kann sich Pias Lunge lebensgefährlich entzünden.

Lebenswichtige Lieferungen bleiben aus

Doch seit Kurzem werden die dafür benötigten Materialien nicht mehr in vollem Umfang geliefert. Denn der Provider, Löwenstein Medical, der die notwendigen Beatmungsschläuche und Filter liefert, versorgt gleichzeitig ein Krankenhaus in der Nähe, in dem zahlreiche Covid-19-Patient*innen behandelt werden.

Materiallieferung für eine Patientin mit Beatmungsgerät (Bild: Privat / Maria)

Für Pia bedeutet das: Sie kann zwar weiter atmen, es besteht allerdings eine noch größere Sorge um eine mögliche Infektion der Lunge. Denn „man hat die eigentlich wöchentlichen Systemwechsel jetzt monatlich zu machen (…) und zu sparen, wo es irgendwie geht“, so Krankenschwester Maria.

Lieferanten bekommen immer mehr Anfragen

Der Provider Löwenstein Medical will sich zu Pias Fall nicht äußern und verweist auf seine allgemeine Pressemitteilung, in der er erklärt: „Wir konzentrieren uns jetzt voll und ganz auf unseren Versorgungsauftrag. Alle Mitarbeiter tun ihr Möglichstes, um die Geräte in dieser kurzen Zeit zu fertigen und den Menschen mit Corona und anderen Atemwegserkrankungen zu helfen“

Die Bundesregierung sichere die Versorgung mit Beatmungsgeräten in der Corona Krise und habe dazu einen Auftrag über 6500 Beatmungsgeräte bei Löwenstein Medical platziert. Dazu habe das Unternehmen bereits im Februar angefangen, seine Fertigung deutlich zu erhöhen, nicht zuletzt auch aufgrund der Nachfrage aus China.

Auch für eine erfahrene Krankenschwester ein ungewöhnlicher Anblick – Der Materiallieferschein zu einer unvollständigen Lieferung (Bild: Privat / Maria)

Anspruch ja – Ansprechpartner Fehlanzeige

Trotz erhöhter Produktion des Providers wurden Pias Lieferungen wegen der Umverteilung der Medizinprodukte stark gekürzt. Laut Pflegekraft Maria hat Pia allerdings weiterhin vollen Anspruch auf die umfängliche und regelmäßige Versorgung.

„Bisher hat Pia einen Anspruch auf die Lieferungen. Wenn uns die Krankenkasse irgendetwas nicht genehmigen wollte, dann haben wir bisher sagen können, dass das aber zum Schutz des Lebens notwendig sei. Da konnten wir immer argumentieren. Jetzt haben wir Corona. Das Zeug ist nicht da, aber sie hat immer noch einen Anspruch.”, so die Krankenschwester. Allerdings einen, der nicht erfüllt wird und somit Pia nichts bringt.

Das rechtliche Argumentieren, das die Krankenschwester gewöhnt ist, wenn Lieferungen ausbleiben, funktioniert nicht mehr in einer Situation, in der die Frage gestellt wird, wer überhaupt ein Recht auf ein seltenes Produkt hat, das von vielen beansprucht wird. Dem dramatischen Leid von Langzeitpatienten wie Pia steht das Leid der plötzlichen Coronapatient*innen gegenüber.

Ein Dilemma für alle

Zusätzlich zur Sorge um rechtzeitige Versorgung mit Medizintechnik sieht sich Pia mit einer Situation konfrontiert, die ihre ambulante Behandlung daheim quasi alternativlos macht. Das Infektionsrisiko mit Covid-19 bei stationärer Behandlung ist für Pia ein weit höheres als bei anderen Patient*innen. Eine Versorgung im Krankenhaus ist für sie daher derzeit undenkbar, wie ihre Pflegerin erklärt. „Wenn (Pia) Corona bekäme, hätte sie keine Chance. Sie kann unter Anstrengung 50 Sekunden atmen. Wenn sie jetzt noch Corona kriegt, z.B. durch eine Infektion wegen mangelnder Hygiene, kann man sich ausrechnen: Es ist aussichtslos.”

Dabei ist Pia kein Einzelfall. Die Zahl der Patienten, die langfristig auf ein Beatmungsgerät angewiesen sind, ist in den letzten Jahren sogar gestiegen. Hinzu kommt nun pandemiebedingt ein drastischer Anstieg der kurzfristigen Beatmungspatienten. Maria versteht deshalb die Lieferengpässe, steht jedoch ratlos vor der Frage, wem man Beatmungsmaterial zuerst geben sollte, wenn es viele Patienten, aber nur wenig Material gibt. In der Coronapandemie stellen sich neue medizinethische Fragen.

Einwegmaterialien zur maschinellen Beatmung (Bild: Privat / Maria)

Vorsorgen und Abwägen

Genau mit solchen Fragen setzen sich nun Ethikkommissionen verschiedener Krankenhäuser auseinander. Und das nicht nur in stark von Corona betroffenen Teilen Deutschlands.

„Jeder bereitet sich auf das Worst-Case-Szenario vor… “. So beschreibt die Qualitätsbeauftragte und Beschwerdemanagerin, Dr. Elisabeth Lang*, die Situation. Sie ist auch Mitglied der Ethikkommission eines Krankenhauses, die für diesen Fall eine Verfahrensanweisung erarbeitete.

Dabei haben man in ihrem Arbeitsumfeld noch nicht entscheiden müssen, welcher Patient bevorzugt behandelt werden dürfe. In der Klinik von Dr. Elisabeth Lang „wurden keine Maßnahmen zur Minimierung von Nicht-Corona-Patienten getroffen. Angemeldete Patienten haben selber abgesagt bzw. sind vorzeitig abgereist aus Sorge vor Corona“, berichtet sie.

Gefahr durch fehlende Kontrolluntersuchung

Genau wie Pia trauen sich viele Patienten nicht mehr ins Krankenhaus. So meldeten beispielsweise die Zentralen Notaufnahmen der Berliner Charité schon in März einen Rückgang an Schlaganfallpatienten um 25 Prozent im Vergleich zu den Vormonaten. Die Mitarbeiter*innen der Charité gehen davon aus, dass vor allem Schlaganfallbetroffene mit leichten Anfällen wahrscheinlich aus Sorge vor einem Klinikaufenthalt zu Hause blieben. Das birgt allerdings das Risiko von Folgeanfällen, welche dann mit schlechteren Prognosen verbunden sind.

Ein leeres Krankenhausbett – viele Patienten trauen sich nicht mehr ins Krankenhaus (Bild: Privat / Dr. Elisabeth Lang*)

Wenn die Arztpraxis zur Tabuzone wird

Für viele chronisch Erkrankte, auch außerhalb der Krankenhäuser, stellt die Coroankrise eine ganz andere Herausforderung dar. Krankenschwester Maria kennt aus ihrem Beruf die Situation von Menschen, die daheim gepflegt werden müssen – häufig im höheren Alter und mit anderen Krankheiten. Maria betont: „Kein Mensch sollte seine Grunduntersuchung aus Angst absagen, wenn er auf Hygienevorschriften achtet und nicht stark von einem Infektionsrisiko gefährdet ist. Du kriegst die Behandlung, du kannst dich behandeln lassen, das ist kein Problem. Die Frage ist nur: Traust du dich wirklich in eine Arztpraxis?“

FFP2-Masken gehören zur Grundausrüstung von Pflegepersonal und sind zugleich Mangelware (Bild: Privat / Maria)

Denn für Risikopatient*innen wie Pia ist ein Arzt oder Krankenhausbesuch fast unmöglich geworden. In Krankenhäusern ist das hohe Risiko einer Infektion mit Viren und Bakterien durch Corona für sie noch weiter gestiegen.

Pia hat „letzte Woche eine hochgefährliche Lungenentzündung gehabt. Das heißt, wir mussten den Arzt rufen. Sie hatte hohes Fieber, war schwach, konnte gar nichts mehr. Weder essen noch trinken. Wir dachten zuerst, es sei Corona. Der Arzt hat diesmal keine Silbe gesagt von Krankenhaus, weil in dem Fall wäre Krankenhaus möglicherweise tödlich gewesen.“ erklärt Pias Pflegerin.

Zwischen Heilung und Risiko

Wegen der Lungenentzündung und dem damit verbundenen Gewichtsverlust von Pia bräuchte sie eigentlich nun eine Magensonde, um künstlich ernährt zu werden. Doch der Eingriff wäre in Zeiten des Virus noch risikoreicher. Die Frage danach, welche Eingriffe verschiebbar sind und welche lebensnotwendig sind, wird in Zeiten von Corona häufig gestellt. Die Definition, was letztendlich eine verschiebbare Behandlung ist und was nicht, wirkt in Pias Grenzfall wage.

Eine Sprecherin des bayerischen Gesundheitsministeriums äußert sich dazu, dass aufgetragen wurde „verschiebbare Behandlungen einstweilen zurückzustellen. […Dies] galt ausdrücklich nur, soweit ein Aufschub im Einzelfall als medizinisch vertretbar anzusehen war. Zu keiner Zeit bestand die Situation, dass zeitkritische Behandlungen – unabhängig von der Erkrankung – hätten unterbleiben müssen.“

(…Es) wurde den Krankenhäusern aufgegeben, verschiebbare Behandlungen einstweilen zurückzustellen, um (…) möglichst umfassende Kapazitäten für die Behandlung von COVID-19-Erkrankten bereit zu halten.

Bayerisches Gesundheitsministerium
In diesem Krankenhaus werden Betten für mögliche Corona-Patienten frei gehalten – für Pia* kann ein Krankenhausbesuch tödlich sein (Bild: Privat / Dr. Elisabeth Lang*)

Letztlich eine ethische Frage

Ebenso wage ist Pias Zukunft. Sie erlebt das deutschen Gesundheitssystem, das durch die Coronakrise strapaziert wird wie selten zuvor. Dass Pia überhaupt noch am Leben ist, hat mit dem technischen Fortschritt der Medizin zu tun. Trotzdem stellt sich die Frage, welchen Anspruch die Patientin in einer Krisensituation gegenüber anderen Patienten hat. “Das ist eine ethische Frage”, sagt ihre Pflegekraft Maria. “Und du kannst jetzt auch niemanden verteufeln, weil Corona ist halt ein Fakt.“

Doch nicht nur Pflegekräfte wie Maria stoßen dabei in ihrer Arbeit und auch bei ihren Entscheidungen an Grenzen. „Unser Staat leistet sich eine Gesundheitsversorgung, die es vor 30 Jahren überhaupt nicht gegeben hätte. Die Frau wäre schon zehn Jahre tot. Aber das geht halt nur solange gut, wie nicht sowas kommt wie Corona. Corona setzt das ganze außer Kraft.”

Pia kämpft seit Jahren weiter und hofft auf die Umsicht ihrer Mitmenschen, trotz Lockerungen der Beschränkungen vorsichtig zu bleiben. Auch, oder vor allem, an Patient*innen, die noch nicht von Covid-19 betroffen sind, zu denken, damit sie sich auch weiterhin nicht damit infizieren.

*Name wurde von der Redaktion geändert