
FILMFEST 2025
American Sweatshop
Wir blicken auf den Bildschirm – und der Bildschirm blickt auf uns.
In einer Welt, in der scheinbar alles von Algorithmen gesteuert wird und jeder Swipe harmlos erscheint, richtet Regisseurin Uta Briesewitz in ihrem neuen Film American Sweatshop den Blick hinter die glänzende Oberfläche sozialer Medien.
Die Hauptfigur, gespielt von Lili Reinhart, ist Daisy Moriarty, eine junge Frau, die in einem Unternehmen für Inhaltsmoderation arbeitet. Tag für Tag überprüft sie tausende von durch Nutzer:innen gemeldeten Posts („Tickets“) und muss innerhalb weniger Sekunden entscheiden: Verstößt dieser Inhalt gegen die Plattformregeln? Soll er gelöscht oder freigegeben werden? Was sie sieht, ist nicht die schöne Seite des Internets, sondern dessen Abgrund – zum Beispiel Tierquälerei, sexualisierte Gewalt, Rassismus oder inszenierte Folterszenen.

Abgründe der sozialen Medien
Sie werden darauf trainiert, wie Maschinen zu urteilen: präzise, emotionslos, effizient. Doch Daisy ist noch nicht vollständig abgestumpft. Als sie ein Video sieht, in dem ein Mädchen brutal mit einem Hammer angegriffen wird, versucht sie, die Polizei zu rufen. Doch ihre Kollegin hält sie zurück: „Du sollst auf Löschen klicken, das ist dein Job.“ Aber die Bilder lassen sie nicht los. Das Video verfolgt sie immer stärker – bis sie beginnt, nach seiner Herkunft zu suchen. Dabei verlässt sie die Sicherheit ihres Bildschirms und gerät in eine gefährliche, reale Welt.
Wir glauben oft, das Netz funktioniere automatisch. Doch hinter jedem gelöschten Video, hinter jedem verschwundenen Bild steht vielleicht eine Moderatorin – mit Tränen in den Augen, mit Angst oder sogar mit einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie sind die Filter unserer Informationsgesellschaft – aber ohne Schutz. Gegen das innere Zerbrechen erhalten sie lediglich Meditations-Apps und die Telefonnummer der firmeninternen Hotline.
We watch this shit so no one else has to.
American Sweatshop
Was bleibt, ist die Wahl
„Es gibt drei Arten von Menschen auf der Welt: Die, die sie besser machen. Die, die sie schlechter machen. Und die, die einfach nur zuschauen“, sagt Daisy an einer zentralen Stelle im Film. Doch sie entscheidet sich, nicht länger nur zuzusehen – ein stiller, aber radikaler Akt der Selbstermächtigung. Ihre persönliche Einsicht wird damit zur unbequemen Frage an uns alle: Reicht es wirklich, sich nicht zu beteiligen? Oder wird unser Wegsehen in einer Welt voller digitaler Gewalt und realem Leid nicht längst selbst zu einer Form der Mitverantwortung?

Die stille Wucht
Briesewitz’ Kamera bleibt ruhig und distanziert – sie urteilt nicht, sie emotionalisiert nicht, sondern zeigt die Realität schonungslos. Die visuelle Sprache des Films ist von einem kühlen Grau-Blau durchzogen, das an ein unmenschliches, steril wirkendes Labor erinnert. Sie verzichtet auf pathetische Musik und übersteigerte Emotionen. Stattdessen baut sie eine bedrückende Atmosphäre über die Macht der Details auf. Wiederkehrende, vertraute Oberflächen – Pop-up-Fenster sozialer Netzwerke, Chatverläufe, algorithmische Auswahlmasken – erzeugen eine starke Immersion und lassen das Publikum tief in die beklemmende Welt eintauchen. Gelegentliche Nahaufnahmen, wie gespannte Mundwinkel oder leicht zitternde Finger, lassen spürbar werden, wie die Menschlichkeit am Rand des Zusammenbruchs steht.
American Sweatshop ist kein einfacher Film. Er ist unbequem, verstörend und gleichzeitig unglaublich notwendig. Uta Briesewitz gelingt ein Werk, das durch visuelle Strenge, psychologische Tiefe und gesellschaftliche Relevanz besticht.
American Sweatshop läuft noch zweimal auf dem Filmfest München:
Mo, 30. Juni – 17:30 Uhr (100 Min.)
Anschließendes Q&A mit Anita Elsani und Christiane Paul
📍ASTOR ARRI Kino
Di, 01. Juli – 20:00 Uhr (100 Min.)
📍Amerikahaus Theatersaal