
Filmfest 2025
SIRÂT
Am Anfang die Defintion: Oliver Laxes “SIRÂT” startet mit einem Zwischentitel, der den Begriff aus dem Arabischen erklärt: SIRÂT ist eine Brücke, dünn wie ein Haar und scharf wie ein Messer. Dieses Messer schneidet. Was zuerst wie ein Road-Movie, eine Vater-Sohn-Geschichte oder ein Musikfilm erscheint wird schnell zu einem Trip in den Schwellenraum zwischen Leben und Tod.
Stellt euch vor, ihr seid auf einem Rave in der Wüste. Euer Körper ist voller Schweiß und Staub, ihr klammert euch an euer Getränk, umgeben von flatternden Augenliedern, die von zerfließendem Kajal umrahmt sind. Um euch herum ist meilenweit nichts außer Stein und Staub, vor euch nur eine riesige Soundanlage, wie ein Altar. Der Bass pulsiert unendlich weit durch den leeren Raum und durch den Pulk der Raver, alle zucken zum selben Beat, von oben seht ihr aus wie ein außerirdischer Organismus, der sich in die Wüste verirrt hat. Keiner spricht ein Wort, aber alle sind verbunden bis plötzlich…
…ein bäuchiger mittelalter Mann vor euch steht und euch eine Kopie eines Zettels in die Hand drückt. Darauf zu sehen ist das Foto eines verlorenen Mädchens mit traurigen Augen, er fragt ob ihr sie gesehen habt, sie ist seine Tochter. Dieser Mann namens Luis (Sergi López) ist in Begleitung seines jungen Sohnes Esteban (Bruno Núñez) und dem Familienhund Pipa. Die drei, allen voran Luis, sind Fremdkörper auf der Welt des Raves, sie stören das Bild und sie stören die (Un)Ordnung. Auch ihre Suche zeigt sich wenig erfolgreich, und dann löst das Militär die Veranstaltung auf, und befielt den Europäer:innen, sich auf den Heimweg zu machen. Als eine Gruppe Raver:innen, die sie in der Nacht davor getroffen haben, aus dem Konvoi ausbricht und in die Wüste davonrast, um zu einem anderen Rave zu gelangen, treffen Luis und Esteban innerhalb von wenigen Sekunden eine folgenschwere Entscheidung: Sie geben Vollgas und fahren hinterher.
Parallelwelten
Davon zeigen sich Raver:innen auch erstmal gar nicht so begeistert. Luis und Esteban sind nicht im geländetauglichen Van, sondern einem ausgebauten Familienauto unterwegs, Esteban ist noch ein Kind und auch Luis sieht mit Bauch und Jeanshemd nicht unbedingt aus wie ein Survival-held. Doch die ruhige Verbissenheit der beiden, ihre Suche fortzusetzen, lässt keinem eine Wahl. Es sind sehr unterschiedliche Lebensformen, die hier aufeinander prallen. Luis und Esteban sind eine bürgerliche Kleinfamilie, die auf der Suche nach Wiedervereinigung ist. Die Raver:innen hingegen scheinen dem Rest der Gesellschaft den Rücken zugekehrt zu haben und sehen sich gegenseitig als Ersatzfamilie.
Der Film zeigt, dass in beiden Familienkonstrukten Zärtlichkeit und Brüche zu finden sind: Luis und Esteban scheinen eine enge Beziehung zu haben, aber aus irgendeinem Grund ist ihre Tochter und Schwester verschwunden. Die Raver:innen scheinen immer eine gute Zeit zu haben, aber sie haben sich sicher nicht grundlos aus der breiten Gesellschaft zurückgezogen. Ihre Körper sind ebenfalls nicht ohne Narben, einigen von ihnen fehlen ganze Gliedmaßen. Langsam wachsen die beiden Gruppen zusammen, teilen Benzin und Essen. Das ist auch notwendig, denn je tiefer sie in die Wüste vordrängen, desto ernster wird der Kampf ums Überleben.
Authentisch Abgefuckt
Die Spannung zwischen den Raver:innen und dem Rest der Welt baut Laxe schon durch seinen Cast auf. Bis auf Luis und Esteban werden nämlich alle Charaktere von Laiendarsteller:innen gespielt, die tatsächlich aus der Rave-Szene kommen. Das sieht man auch im Film, wenn sie feiern, dann feiern sie von sich aus. Das Fehlen von schunkelnden Statist:innen gibt den Partyszenen eine Radikalität, die man selten sieht. Diese Leute machen sich nicht vier nette Festivaltage, um mal raus zu kommen. Sie gehen aufs Ganze, ohne Sinn und Erklärung, weil sie müssen.
I think that all human beings are a bit broken, we all have a fracture, an injury, but many of us create mechanisms to project an idealised image of ourselves. What I like about the travelling rave scene is the celebration of our injuries, of showing them.
Oliver Laxe
Während die Welt um sie herum bedrohlicher wird, Ressourcen knapp sind und Kriege ausbrechen baut die Gruppe sich kaputte Lautsprecher auf und tanzt in der Wüste auf der Brücke zwischen Leben und Tod. Das ist kein Eskapismus, sondern Existentialismus.
Tod und Techno
“SIRÂT” ist brutal. Nachdem der erste Teil in aller Ruhe Welt und Beziehungen aufbaut, geht es im zweiten Teil plötzlich ums reine Überleben. Die Dramaturgie bricht gänzlich mit den Regeln des Erzählkinos und baut eine Spannung auf, die in die Knochen geht. Stellenweise ist es körperlich unangenehm zuzuschauen im Bewusstsein, dass es jeden Charakter in jeder Sekunde erwischen könnte.
Der Kampf ums überleben ist hier kein Survival-Horror, und auch kein vage-politisches individualistisches Leiden à la Into the Wild. Stattdessen kann man argumentieren, dass der Überlebenskampf daher kommt, dass “SIRÂT” seine Musik ernst nimmt. In Cannes, wo die französisch-spanische Co-Produktion im Mai Premiere gefeiert hat, wurde er bereits für den besten Soundtrack ausgezeichnet. Das hört man auch: Die Avant-Garde-Electro-Musik von Künstler Kangding Ray fusioniert im Sound Design von Laia Casanovas mit Wind und Explosionen zu einer eindringlichen Geräuschekulisse, die mindestens genauso viel erzählt wie die Handlung.
In der Musik ist der Ursprung, aus dem konsequent der Überlebenskampf der Protagonist:innen erfolgt. Die Anfangsszene wird zur Prophezeihung: Die Musikanlage wird in der Wüste aufgebaut, schickt den ersten Ton in die Weite und alles Andere muss folgen. Wenn die Raver mit rollenden Augen zum Beat zucken begeben sie sich auf den Sirât, diese Brücke, dünn wie ein Haar und scharf wie ein Messer. Der Überlebenskampf im zweiten Teil des Films ist nur die Ausweitung dieses Grenzgangs auf die materielle Ebene. Und wer auf dem Messer tanzt, wird eben bluten.