Fettgedruckt

Einsame Spitze

/ / Foto: M94.5

Lange vor der Coronakrise haben viele Autor*innen ihre bedeutendsten Werke teilweise in Einsamkeit und Isolation verfasst. Auch inhaltlich waren und sind Abgeschiedenheit oder Entfremdung von der Gesellschaft primäre Themen in manchen großen Klassikern der Literaturgeschichte. Die M94.5-Kulturredaktion stellt einige davon vor.

William Shakespeare – König Lear

Hätte es um 1600 bereits Netflix gegeben, wäre die Welt vielleicht nie in den Genuss einiger der größten Dramen der Literaturgeschichte gekommen. Denn auch William Shakespeare blieb vor gut vierhundert Jahren eine Quarantäne nicht erspart, als die Pest in Großbritannien wütete. Die Zeit vertrieb sich der Barde von Avon damals mangels moderner Technologie mit – was sonst – Schreiben und schuf während einer dieser Phasen eines seiner düstersten Werke: König Lear. Tatsächlich waren gesellschaftliche und kulturelle “Shutdowns”, wie wir sie aktuell erleben, damals keine Seltenheit.

Im frühen 17. Jahrhundert stellten neben der Pest auch andere tödliche Krankheiten, etwa die Pocken, eine massive Gefahr dar. Besonders Veranstaltungen wie Theateraufführungen wurden in Zeiten großer Infektionswellen als erstes gestoppt, weshalb die Pest schon damals auch finanziell gesehen für Kulturschaffende existenzbedrohend war. Gerade deshalb diente die Pest vielen Dichtern dieser Epoche als Metapher für Katastrophen und Unheil.

König Lear (Thomas Schmauser, 2.v.l.) im Streit mit seinen machthungrigen Töchtern in der Inszenierung an den Münchner Kammerspielen (Spielzeit 19/20). Foto: Arno Declair

So beschimpft König Lear seine Tochter mit den Worten “bist eine Beule, ein Pestauswuchs, ein schwellender Karbunkel in meinem kranken Blut”. Ob das Drama aber tatsächlich während einer Quarantäne verfasst wurde, bleibt, wie so vieles in Shakespeares Leben, literaturhistorisch umstritten. Sicherlich aber hätte er auch die jetzige Lage sinnvoll zu nutzen gewusst.

Mary Shelley – Frankenstein oder Der moderne Prometheus

In einer etwas anderen Art der Isolation als ihr Landsmann Shakespeare, befand sich Mary Shelley im Sommer 1816. Die britische Autorin gehörte damals zur intellektuellen Elite Londons und verbrachte zusammen mit ihrem Verlobten Percy Shelley mehrere Wochen in der Villa Diodati am Genfer See. In das Haus hatte sich Lord Byron, das Enfant terrible der englischen Literaturwelt, zusammen mit dem Arzt John Polidori und seiner Geliebten Claire Clairmont für die Sommermonate eingemietet. Doch die entspannte Urlaubsstimmung hielt nicht lange an, denn über fast die gesamte Dauer ihres Aufenthalts war der Himmel von grauen Wolken bedeckt und es regnete Wochen lang ununterbrochen.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Ein Stück Popkultur, das Shelleys Roman jedoch nur motivisch adaptierte:
Der Film Frankenstein (1931) mit Boris Karloffs ikonischer Darstellung von Frankensteins Monster

Grund für das miese Wetter war der Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien, der einen gigantischen Schleier aus Schwefel über den gesamten Erdball zog und damit das Klima derart prägte, dass 1816 als “Jahr ohne Sommer” in die Geschichte einging. Da die fünf Bewohner der Villa durch das Wetter gezwungen waren, das Haus zu hüten, schlug Byron vor, jeder solle sich eine Geschichte einfallen lassen, um gegen die Langweile anzukämpfen. Während Percy Shelley und Lord Byron selbst den Vorschlag nur halbherzig umsetzten, nutze Mary Shelley die Gelegenheit, um ein Thema literarisch zu verarbeiten, das sie schon lange begleitet hatte: Was macht den Mensch zum Menschen?

Vor diesem Hintergrund schuf sie in den Wochen der Isolation die Grundzüge einer der bekanntesten Erzählungen aller Zeiten und den Prototypen des Horrorromans: Frankenstein. Und Polidori schrieb die ersten Skizzen für den späteren Bestseller Vamypr, der als früheste literarische Verarbeitung des Vampirmythos gilt.

Xavier de Maistre – Die Reise um mein Zimmer

Ende des 18. Jahrhunderts waren Reiseberichte und Entdeckungsromane stark im Schwange. Ein besonders außergewöhnliches Werk dieses Genres verfasste 1796 der Franzose Xavier de Maistre. Während eines Turin-Aufenhalts kam es zwischen ihm und einer fremden Person zu einem unerlaubten Duell, weshalb de Maistre von den italienischen Behörden zu sechs Wochen Hausarrest verdonnert wurde. Doch die zweiundvierzig Tage in seinem Zimmer hielten den Schriftsteller nicht davon ab, eine abenteuerliche Reise anzutreten – in seinem Kopf.

Darstellung von de Maistre in seinem Zimmer.
Illustration von S. Guillaume aus einer englischen Ausgabe von Quelques Journées du Voyage autour de ma chambre von 1871.
Quelle: Digitale Sammlung der University of Illinois Urbana-Champaign.

In Anlehnung an beliebte Reiseberichte der Zeit schritt de Maistre durch den kleinen Raum und ließ seiner Fantasie freien Lauf. Dabei philosophierte er über die Gemälde an der Wand, beschrieb Optik und Physis seiner Möbel und führte imaginäre Gespräche mit bedeutenden Medizinern der Vergangenheit. Über jeden Tag schriebt er ein neues Kapitel, manche davon komplex und metaphysisch wie die Abschnitte über Körper und Seele, andere eher leicht oder humorvoll und reflektiert, etwa die Passagen über die Freundschaft mit seinen Hunden und über sein Spiegelbild.

So kann man Die Reise durch mein Zimmer nicht nur als interessante Lektüre, sondern fast wie eine Art Anleitung lesen, mithilfe derer die eigenen vier Wände zur großen Weltkugel und der Verstand zum Kompass werden. Nicht umsonst schrieb Xavier de Maistre über sein Werk: “Mein Herz empfindet eine unaussprechliche Befriedigung, wenn ich an die zahllosen Unglücklichen denke, denen ich ein sicheres Hilfsmittel gegen die Langeweile und eine Linderung der Leiden, die sie erdulden, anbiete.”

Ein paar weitere “honorable mentions” von Künstlern, die sich auf die ein oder andere Art in Isolation befunden haben:

Friedrich Hölderlin Der Dichter musste 1806 eine mehrmonatige Zwangsbehandlung im Universitätsklinikum Tübingen über sich ergehen lassen, nachdem bei ihm eine “Manie” diagnostiziert worden war. Die Zeit sollte prägend für Hölderlins Spätwerk werden.

Josephine Tey Die Britin galt als extrem menschenscheu und mied Zeit ihres Lebens die Öffentlichkeit. Obwohl sie mit ihren populären Kriminalromanen zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen ihrer Generation gehörte, ist über ihre Biographie fast nichts bekannt. Besonders Anfang der 40er-Jahre lebte sie isoliert und arbeitete intensiv an weiteren Werken.

Natsume Sōseki: Während der Meji-Zeit war Sōseki einer der prägendsten Autoren Japans. Ein zweijähriger Aufenthalt in London wurde für den Schriftsteller nach eigener Aussage zur unglücklichsten Zeit seines Lebens, da er den großen Kulturschock nicht verarbeiten konnte und darum den Großteil der Zeit in seiner Wohnung verbrachte. Während dieser Phase erlangte er durch zahlreiche Lektüre jedoch eine herausragende Expertise über britische Literatur und wurde später Professor für Englisch in Tokio.

Henry David Thoreau: 1845 zog sich der US-amerikanische Schriftsteller und Philosoph in eine abgeschiedene Blockhütte zurück, um für mehrere Jahre der modernen Gesellschaft zu entkommen und ein Aussteiger-Leben zu führen. Das Buch Walden, welches von seinen Erfahrungen während dieser Zeit handelt, ist ein Klassiker der amerikanischen Literatur und gilt bis heute als stilprägend für den Transzendentalismus.

Schreiben gegen den Corona-Koller

Es gibt also genug Beispiele, die zeigen, wie aus Langeweile und Monotonie große Literatur enstehen kann. Und möglicherweise beschließt jetzt gerade irgendwo ein junger Autor oder eine junge Autorin, nicht mehr länger die Zimmerdecke anzustarren und den Stift in die Hand zu nehmen. Vielleicht steht ja der nächste große Klassiker kurz bevor…