M94.5 Theaterkritik

Die Räuberinnen

/ / Die Räuberinnen rennen durch die böhmischen Wälder / © Judith Buss

Nach Yung Faust knüpft sich Kammerspiele Regisseurin Leonie Böhm einen neuen Klassiker vor und begibt sich auf die Suche nach Freiheit in den böhmischen Wäldern.

Mit seinem Theaterdebüt von Die Räuber, schrieb Friedrich Schiller im Jahr 1782 eines der bedeutendsten Stücke des Sturm und Drang. Es ist die Geschichte zweier Brüder, wie sie ungleicher nicht sein könnten. Maximilian Graf von Moor liebt besonders seinen ersten Sohn Karl, den rechtmäßigen Erben. Im Schatten von Karl steht Franz, der hässliche, ungeliebte Sohn, dem nie genug Aufmerksamkeit zuteil wurde. Wie diese kurze Zusammenfassung schon vermuten lässt, geht es im Stück um einen Vaterkomplex, hinter dem sich ein Kampf um Anerkennung verbirgt. Karl wird durch eine Intrige von Franz verstoßen und gründet gemeinsam mit seinem Kommilitonen Spiegelberg eine Räuberbande, Namen gebend für das Stück. Beide Brüder scheitern am Ende, doch bietet der revoluzerische Stoff auch über 200 Jahre später genug Inspiration für Neuaufführungen.

Radikale Kürzung

Viel bleibt von der Handlung des Stücks nicht übrig, in der Inszenierung von Leonie Böhm. Genau das ist ihr Stil. Alles Unwichtige ausradieren, einfach weglassen, was überflüssig erscheint. Dazu zählt auch ein verstaubtes, heteronormatives Männerbild. Deswegen inszeniert Böhm so gerne Klassiker. Da muss sie nicht so viel erklären, da kann sie sich auf das Wesentliche fokussieren, weil das Publikum weiß um was es geht. Ihr Bestreben ist es, dass ihre “Spielerinnen in ein fantasievolles Miteinander kommen”. Zentral ist die Kommunikation, das offene Sprechen über Ängste, Nöte, Sehnsüchte. Bewusst hat sich Böhm entschieden für die gesamte Inszenierung nur Frauen zu engagieren. Maske, Kostüme, Requisiten, Bühnenbild, für alles sind Frauen verantwortlich und das in einem so testosterongeladenen Stück.

Weiblichkeit ohne Limits

Die Umkehr des ehemals Männlichen in eine experimentelle Weiblichkeit, ist ein zentraler Aspekt des Stücks. Was passiert wenn die Worte von Schillers Räubern von Frauen gesprochen werden? Was wird umgeschrieben und welche Bedeutungen bleiben durch die Zeit gleich? Viele der Figuren aus Schillers Stück tauchen in den Räuberinnen gar nicht auf, stattdessen wird der Fokus auf das Innenleben von Karl (Julia Riedler) und Franz (Eva Löbau) gelegt. Nein, die beiden heißen nicht plötzlich Karla und Franziska, die Namen bleiben gleich. In der ersten Hälfte des Stücks sinnieren die Brüder in sehr langen Monologen über ihr Innenleben nach, beide unzufrieden, beide depressiv. Sehr passend die übergroße Regenwolke im Hintergrund, die für die Kulisse ihres Lebens steht. Begleitet wird das Ganze durch banal-vulgäre Gefühlsballaden von Friederike Ernst, früher Sängerin in der Indie-Pop Band Schnipo Schranke.

Die Wolke schwebt stimmungsvoll im Hintergrund. © Judith Buss

Aufbruch in die Freiheit

In den Räubern von Schiller ist Amalia von Edelreich die einzige Frau und tut nichts anderes als in einer Gartenlaube auf Schloss Moor zu sitzen, schön zu sein und zu warten. Die Männer dahingegen sind vielschichtige Persönlichkeiten, die drängend und stürmerisch um Freiheit kämpfen. Aus der passiven Amalia (Sophie Krauss) wird bei Böhm eine aktive Protagonistin, die sich darum bemüht den lethargischen Brüdern neues Leben einzuhauchen. Das gelingt nicht, bis Spiegelberg, gespielt von Gro Swantje Kohlhof die Bühne betritt. Oder besser: den Zuschauerraum stürmt. Die 25-jährige Schauspielerin wurde dieses Jahr von Theater heute als beste Nachwuchsschauspielerin des Jahres 2019 ausgezeichnet. Zurecht, wie sie in die Räuberinnen beweist. Voller Elan und Enthusiasmus bringt sie das Publikum dazu mit ihr den böhmischen Wald der Räuber zu inszenieren. Der Wind muss heulen, die Vögel zwitschern, die Äste knacken. Schon verwandelt sich der Zuschauerraum in das Zuhause der Räuberinnen. Spiegelberg alias Gro bringt die drei auf der Bühne Zurückgebliebenen dazu sich mit ihr auf eine Gedankenreise zu begeben. Gemeinsam stürmen sie durch die Wälder, Spiegelberg, Amalia, Karl und Franz. Sie suchen nach Freiheit, nach ihrer Bestimmung. Vereint als Bande bleibt jede von ihnen doch individuell. Wie um zu zeigen, dass es verdammt schwer ist in einem gesellschaftlichen Korsett aus Konventionen zu leben, reißen sich die vier immer mehr Klamotten vom Leib und wirken wie völlig neue Menschen in ihrer reinen und nicht sexualisierten (!) Weiblichkeit. Pistolengefechte werden zu einem Lasershooting mit nackten Brüsten und ebenfalls mit Brüsten wird das Finale eingeläutet.

In der zweiten Hälfte des Stücks fallen alle Hüllen. © Judith Buss

Nackt und Nass gegen die Norm

Wie schon in Yung Faust rutschen und rollen die Schauspielerinnen in einer Pfütze herum, als wäre es das Spaßigste auf der Welt. Nicht nur kreuz und quer über die Bühne schlittern die Räuberinnen, auch ins Publikum rutschen sie schamlos-fröhlich, mitten hinein in die erste Reihe. Wer sich jetzt fragt, wo hier eigentlich die Handlung von Schillers Räubern steckt: sie ist nicht vorhanden, aber sie fehlt auch nicht. So bringen die nassen, nackten Körper der Frauen am Ende die Frage auf: ist das, was wir gerade sehen absurd oder ist das eigentlich Absurde unsere Gesellschaft mit ihren Verhaltensnormen und ihrer Objektivierung der weiblichen Körper? Feiern die Räuberinnen nicht gerade die Lust, die Suchen nach der Freiheit im Spiel, das Ausbrechen aus den gesellschaftlichen Zwängen? Was diese Inszenierung wohl am meisten von Schillers Version entfremdet, ist die Tatsache, dass Karl und Franz all das im Original nie erreicht haben.

Wer sich wünscht in ein unvorhersehbares Gefühlschaos hineinzuschlittern, ist bei Böhms Räuberinnen genau richtig. Wer den literarischen Stoff nochmal auffrischen möchte, geht besser im Reclam Heftchen schmökern.